BEATRICE VON MATT
Literaturkritikerin, Publizistin, Zürich
Die Wahrheit der Landschaft
Fünfundzwanzig Jahre lang trug sich Reto Camenisch mit dem Gedanken, Nepal, Tibet und Nordindien / Ladakh zu bereisen. Zwischen März und November 2009 hat er den Plan wahrgemacht. Im Jahr zuvor, als seine Mutter starb, wusste er plötzlich, dass er nun aufbre- chen würde. Auf seiner Expedition lebte er einfach, schlief in billigen Hotels oder im Zelt, wanderte in langen Etappen auf grossen Höhen – beladen mit Stativ und Grossbildkamera. Von den neun Monaten war er deren drei zu Fuss unterwegs. So entstanden Bilder, die weit mehr sind als die Dokumentation einer exotischen Reise. Für uns, die wir sie betrachten, sind sie eine Aufforderung zu eigenem Aufbruch, zu Exkursionen ganz besonderer Art, auch in die Welt unserer Träume. Dort sind Aengste zu Hause und die Sehnsucht nach Klärung. Mit Camenischs Bildern betreten wir einen seelischen Bezirk, den wir sonst vor uns selber verschlossen halten.
Reto Camenisch öffnet ihn für sich selbst, aber da er ein Künstler ist, tut er es auch für andere. Einige Jahre zuvor hatte er die Langsam- keit entdeckt. Dies verwandelte seine Arbeit. Ein versierter Fotojournalist und Porträtist war er zuvor gewesen, jetzt sagt er, das Bild möge ihn finden. Er verzichtet auf den Schnappschuss und die schnelle Inszenierung. Er bedient auch keine zirkulierenden Vorstellungen, etwa die kollektive Bildphantasie des Grandiosen, die von asiatischen Gebirgslandschaften im Umlauf ist. Er erwartet nichts – er wartet. Dann kommt das Bild zu ihm.
Freilich wurde Camenisch auf seiner gefährlichen Fahrt kein „Teppichtibet“ ausgelegt, wie Else Lasker-Schüler es einst heraufbeschwor. Sein Tibet war harte Realität. Es verlangte ihm Kräfte ab, von denen er nicht wissen konnte, ob er sie besass. Er setzte sich aus, mit Haut und Haar und Hirn. Es gab wenig Wasser, man konnte sich kaum waschen; die Höhen von über 5000 Meter über Meer forderten den Körper heraus. Mehr als einmal wurde er krank. Allein wäre das nicht zu schaffen gewesen. Fabienne Bateza, die Lebenspartnerin, reiste mit.
Dieser Fotograf hat eine Wallfahrt unternommen, ohne genau zu wissen, zu welchem Gott, ohne es wissen zu wollen. Zu einer Uebermacht der unverstellten Wirklichkeit jedenfalls, der Wahrheit. Den Bergen hat er sich seit geraumer Zeit schon gestellt. Jetzt, in Nepal, Tibet. und Ladakh, geschah dies in gesteigertem Mass. Nur um sie sollte es gehen. Darum hat er die Anstrengung nicht dokumentiert, die es kostete, die Gegenden um das Himalaya-Massiv zu durchqueren. Auf seinen Bildern fehlen deshalb auch fast immer die Wege. Gebirge sind für Camenisch Manifestationen des Absoluten. Die Mühen, die sie abverlangen, liess er eingehen in das geläuterte, von allem Zufall gereinigte Bild. Er deutet Berge auf eine Weise, die auch dem Betrachter viel abverlangt, die Energie der Demut und einer befremdeten, wenn nicht erschreckten Bewunderung. Die Bewährung vor einer Schönheit, die sich um den Menschen nicht kümmert.
Im sakralen Gespür für die Natur erinnert uns Camenisch an Schriftsteller wie Charles Ferdinand Ramuz oder auch Maurice Chappaz,
der sein Wallis als ein Hochtal Indiens bezeichnete. In der hymnischen Dichtung „Haute Route“ verschweigt Chappaz jedoch nicht, wie im waagrechten Schneesturm die Augen schmerzen, brennen, bluten. Er erwähnt, dass er den Rucksack schnallt, die Skier. Er schildert, wie es ihn hinauftreibt an die Hänge, über die Pässe. Camenischs Bilder hingegen setzen sich ab vom konkreten Verhalten im Gebirge. Der Künstler verzichtet radikal auf alles Erzählerische. Die Reportage, einst seine eigentliche Kunstform, ist ihm fremd geworden. Am Berg eliminiert er die Bewegung des Menschen, die Chappaz so genau verzeichnet. Camenischs Berge ragen ins Ewige. Es sind lotrechte Instanzen, unheimlich, dunkel, da und dort erhellt von einer verborgenen Sonne. Dramatische Veränderungen sind nur dort zu ahnen, wo bröckelnde Abstürze, schmale Gräben auf Erosion hinweisen, wo, wie auf dem Bild „Rong Valley“, Felsbrocken als Vorboten einer Steinflut vor dem Abgrund halt machen. Dies lässt dann an Fotos aus Camenischs Band „Zeit“ (2005) denken: etwa an „Vorderer Lohner“ und „Lohner“ im Berner Oberland.
Im vorliegenden Buch wird die Abteilung der schwarzweissen Gebirge wohltuend eränzt durch einen Sektor, der den Menschen und Menschenspuren gilt. Diese erscheinen in den farblich subtil gestalteten Bildfolgen „Pilger“ und „Orte“. Doch auch hier ist wenig Bewegung auszumachen, dafür Ruhe und Ergebenheit in den Gesichtern. In zarten Blau- und Grautönen zeigen sich die kleinen Heiligtümer, welche Camenisch als „Orte“ bezeichnet. Keine grossartigen Tempelanlagen sind abgelichtet, sondern stille Zeichen auf den mühseligen Wegen der Läuterung. Armselig muten sie an, provisorisch fast, als ob der Mensch nicht ankäme gegen die Gewalt der Schöpfung.
Der Fotograf und Bergsteiger aus Bern verstand sich in Nepal und Tibet wohl selber als Pilger, als einer jedenfalls, der sich angesichts der Grösse der Landschaft als Person und als Künstler völlig zurücknimmt. Man weiss nie genau, von welchem Standort er blickt. Die persönliche Perspektive ist ganz in die Komposition der Horizontlinien und Flächen eingegangen. Abschattiert in unterschiedlichen Dunkeltönen, sind so Bilder von kühner Schönheit entstanden. Diese inszenieren sich aber nicht als Kunstwerke, dagegen verwahrt sich Camenisch vehement. Die ästhetische Arbeit versteht er als Dienst an der Wahrheit.
Am Anfang aller seiner Gebirgsansichten dürfte jene Fotografie stehen, die er dem Band „Bluesland“ (1997) voranstellte: „Weissenberg, Glarus“. Als er sechs Jahre zählte, im September 1964, ist an jenem Berg sein Vater bei der Jagd tödlich verunglückt. Bei einem Gespräch im November 2010 meinte er, dass er sein Kindheitstrauma, den frühen Verlust des Vaters, heute wohl überwunden habe. Er sei jetzt zweiundfünfzig, selber Vater von erwachsenen Töchtern. Wenn man aber Kenntnis hat von dem Ereignis, kommt man nicht umhin, auf seinen Bildern auch so etwas wie eine Todeszone zu erblicken.
Man fühlt sich an Meinrad Inglins Erzählung „Die Furggel“ (1943) erinnert. Im Alter von fünfzig Jahren hat der Schriftsteller darin den Bergtod seines eigenen Vaters verarbeitet. Inglin war elf Jahre alt, als sein Vater im August 1906 wegen eines Steinschlags am Tödi abstürzte. In der „Furggel“ macht er aus ihm einen Jäger, der im unverhofften Anblick von Gemsen zum Fernglas greift, auf dem schrägen Felsband ins Rutschen gerät und, „ausgerissenes Gras in den Fäusten“, lautlos in die Tiefe stürzt. Der nichts ahnende kleine Sohn, den der Mann – anders als in Inglins Biographie – auf die Tour mitgenommen und auf dem Furggelgrat hat warten lassen, schaut sich indessen um in der „gewaltigen Welt“, hochgestimmt wie ein „junger Erbprinz, der das väterliche Reich übernommen hat“. Dass er es wirklich übernommen hat, erfährt der verzweifelt wartende Bub erst im Morgengrauen des folgenden Tages. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Inglin über das Unglück schreiben konnte. Er tat es in der „Furggel“ und im Roman „Werner Amberg“. Auch Reto Camenisch hat Jahre gebraucht, bis er einzudringen wagte in die grossen Berglandschaften, die seit dem Band „Zeit“ (2005) seine bevorzugten Themen sind. Er habe erkannt, sagt er gesprächsweise, dass die Bedrohung, die vom Berg ausgehe, nicht sein Schicksal sei. So konnte er selber Bergsteiger werden, Kletterer. Mit der Erschöpfung komme die Ruhe, und er atme den Berg. Das sei ein spirituelles Erlebnis, die Landschaft werde für den, der sie erfahre, zu einem Resonanzkörper.
In drei Etappen hat er sich sein neues Gebiet erfahren und erwandert. Die erste und zweite Route führte nach Nepal, zunächst zur Khumbu-Region um den Mt. Everest, dann von Simikot über Tuling und den Nara La Pass nach Hilsa und zum Grenzübertritt nach Tibet / China. Wichtige Stationen waren hier: Taklakot, der See Manasarowar, Darchen und Mt. Kailash, der heilige Berg der Hindus. Route drei galt Nordindien / Ladakh. Von Leh aus, Ladakhs hochgelegener kleiner Hauptstadt, gelangte er über den bis auf 5600 Meter ansteigenden Pass Khardung La ins Nubra Tal und ins Indus Tal. Von da ging’s wieder zurück nach Leh und dann ins Rong Tal und zum Tsomoririsee. Ortsnamen geben jedoch bloss ein Raster ab. Für die Bilder sind sie nicht entscheidend. Was den reisenden Fotografen politisch störte und empörte, gerade im brutal kontrollierten Tibet, ist unberücksichtigt geblieben. Motive des Zufälligen und Zeitbedingten fanden keinen Eingang ins Bild. Entscheidend waren die Einsamkeit der abschüssigen Felsen, die Verlorenheit, das verborgene Versprechen. Camenisch liess sich stunden-, tagelang darauf ein, drückte den Auslöser erst, wenn das Licht stimmte, wenn er, wie er sagt, sich eins fühlte mit der Umgebung. In den gut zehn Jahren, da er sich mit dieser Art des Fotografierens beschäftigt, hat er zur Landschaft hin – ist sie nur leer genug – etwas wie eine durchlässige Membran entwickelt. Innen und aussen geben sich Antwort. So wie er das Bildermachen versteht, ist er auf steter Suche nach einem mystischen Augenblick, einem Nu, in dem sich Kategorien wie Raum und Zeit und aller zielgerichtete Wille verlieren.
Jede Aufnahme steht für sich. Der unverwechselbare Einzelmoment macht Front gegen die Reproduzierbarkeit, welche das Metier weithin bestimmt. Daher verbietet es sich bei diesem Fotografen, von Serien zu sprechen. Wohl aber sind Variationen von Themen auszu- machen. Solche des Vertikalen zunächst, wie sie uns schon im Buch „Zeit“ in Bann schlugen, damals etwa „Muriwai II, Neuseeland“. Dort schien den überhängenden Wänden nur ein Vogel gewachsen. Etwas mokant spähte ein Federvieh über den Rand hinaus, den Schlund unter ihm überwachend. Auf den asiatischen Bildern fehlen Tiere und weitgehend auch Pflanzen. Da liegt mal ein knorriger Ast, Flechten überziehen ein Gestein, selten stehen ein paar Bäume. Vieles ist oberhalb der Baumgrenze entstanden. Fotos wie „Nubra Tal“, „Hilsa Valley“ oder „Taboche“ mit dem spitzen Berg, der einem taumelnden Matterhorn gleicht, führen das Thema Senkrechte konsequent weiter. „Limi Tal“ heisst eine der seltenen Fotografien, auf denen Wege zu erkennen sind, ein Strässchen, das schwindelerregend um einen Hang herumführt. Sich auf solchen Trassees von Einheimischen chauffieren zu lassen, sei weit gefährlicher als zu Fuss unterwegs zu sein, erzählt Camenisch. Das Leben des Einzelnen gelte dort nicht viel.
Der Landschaft wird der alte Schrecken zurückgegeben. Schaut man freilich geduldig hin, beginnen die Abstürze zu leben. Die da und dort besonnten Kanten, die steilen schwarzen Furchen, die in malerischen Valeurs von Grautönen abgestuften Hänge lassen Bilder von einer ästhetischen Kraft entstehen, die mit Arrangieren niemals zu erkaufen wäre, die – über das handwerkliche Können hinaus – wohl wirklich nur mit Warten zu erreichen ist, dem Warten auf das richtige Bild. Aehnliches erreicht der Fotograf mit den Seen und Hochebenen im Tibet. Weit, ausgeräumt, entrückt wirken sie. Sie setzen dem Vertikalen eine magische Horizontale entgegen.
Ein neues, ein Hoffnungsmoment vermitteln die erstaunlichen Aufnahmen, auf denen der Mt. Kailash zu erkennen ist. Der Berg der Pilger wird nie frontal gezeigt. Camenisch lässt ihn hinter engen Tälern zwischen nächtigen Schotterhalden hervorblinken, schneeglänzend, hell wie eine Verheissung. Diese Bilder markieren den Kreuzungspunkt zwischen einer Unheils- und einer Heilsgeschichte. In der Form erin- nert der Mt. Kailash an die Berner Oberländer Pyramide des Niesen, wie wir sie von früheren Arbeiten des Fotografen kennen. Am Niesen hat er sich vor Jahren die Bergwelt erschlossen. Angesichts der Aufnahmen des Mt. Kailash erscheint jener nun wie dessen Präfiguration. Camenisch hat den heiligen Berg selbst umrundet. Doch er sei kein Hindu und auch kein Buddhist, betont er, er sei christlichen Grund- werten verpflichtet. Trotzdem: in jenen asiatischen Gegenden lerne man, dass die Welt grösser sei, als man uns glauben mache. Es sei übrigens weniger Tibet – dieses werde seit fünfzig Jahren zerstört – was einem eine solche Überzeugung vermittle, als vielmehr Ladakh, wo die tibetische Kultur noch einigermassen erhalten sei.
KERSTIN STREMMEL
Kunsthistorikerin, Köln
Am Abgrund
»What seest thou else In the dark backward and the abysm of time?« SHAKESPEARE, The Tempest
Reto Camenisch hat einen weiten Weg zurücklegen müssen, um dorthin zu gelangen, wo er jetzt steht. Aber er war natürlich immer schon da, ohne es wahrhaben zu wollen, wie die meisten von uns. Denn diesen Ort, diesen Abgrund tragen wir mit uns herum, und eigentlich müssten wir uns nur die Augen richtig auswischen, um ihn sehen zu können. Das ist leichter gesagt als getan in einer Welt, in der Bilder und Wörter und Töne immer zudringlicher werden, wir im Lärm des Markts (im Handy-Gebimmel!) kaum unser eigenes Wort verstehen und nicht merken, wenn wir im Ansturm der Reize aller Art, ohne einen brauchbaren Anhaltspunkt, wahrnehmungstechnisch gleichsam den Boden unter den Füssen zu verlieren drohen. Während Reto Camenisch‘ erstes Buch BÜRGERBILDER von 1993 sich noch als im Einklang mit seiner Arbeit als Portrait- und Reportagefotograf befindlich verstehen lässt, kann man an vielen Bildern in BLUESLAND von 1997 bereits erkennen, dass er es gemerkt hat, dass er sich dieses Problems bewusst geworden ist. Dem eigentlichen Korpus des Buchs, 64 Schwarzweiss-Fotografien aus dem Mississippidelta, die paradoxerweise - und zwar nicht nur in ihrer demokratischen Sujetwahl - an William Eggleston, den farbigen Visionär der Südstaaten, erinnern, sind nämlich als eine Art Prolog dreizehn ebenfalls schwarzweisse Fotos aus der Schweiz vorangestellt, deren erstes und grösstes, das ebenfalls quadratische «Weissenberg, Glarus», vorausweist auf die in ihrer menschenleeren Stille so eindrucksvollen Bilder seines neuen Buches, das ja zunächst den Titel «Heimat» tragen sollte. Der schwarz mit wenigen Schneeflecken von der rechten unteren Ecke in den dynamischen grauen Wolkenhimmel hineinragende Berg, der nicht einmal zehn Prozent der Bildfläche einnimmt, war der Ort, an dem Edmond Camenisch im September 1964 auf der Jagd unglücklich zu Tode stürzte, als sein Sohn sechs Jahre alt war - ein Verlust, der das Leben des Jungen vermutlich so nachhaltig prägte wie kaum ein zweites Ereignis. Alfred Stieglitz nannte seine Wolkenbilder seit Mitte der Zwanziger Jahre Equivalents, weil man sie, wie er sagte, «als Äquivalente meiner tiefsten Lebenserfahrung, meiner grundlegenden Lebensphilosophie« betrachten sollte.»
«Weissenberg, Glarus», das Equivalent Reto Camenisch‘, hat durch die vergleichsweise exzentrische Verankerung am Boden allerdings mehr mit jener zwei Jahre zuvor entstandenen Serie von Wolkenfotografien gemeinsam, die Stieglitz noch mit einer Grossformatkamera gemacht und der er den Titel «Music - A Sequence of Ten Cloud Photographs» gegeben hatte. Für sein neues Buch ging der Fotograf wieder auf die Suche, diesmal jedoch auf eine Suche mit der Tempobezeichnung «ruhevoll», vor seiner Haustür und bis ans Ende der Welt: »Ich reise, bewege mich von einem Punkt zum andern. Kann dann noch so fremd sein, wenn dieser Ort kommt, bin ich eins mit ihm. Heimat für kurze Augenblicke und manchmal etwas länger«. Diesen ubiquitären Heimatbegriff des nach ihr suchenden Weltenbummlers, zeichnet angesichts seiner Vergänglichkeit eine gewisse Verwandtschaft mit dem sowohl utopischen wie auch nostalgisch besetzbaren Verständnis aus, das Ernst Bloch am Ende von DAS PRINZIP HOFFNUNG damit verbindet, indem er sie als «etwas» definiert, «das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war». Vielleicht war es der eher bedenkliche als bedenkenswerte Bestandteil des Begriffs, der Reto Camenisch davon absehen liess, ihn als Titel seines dritten Buches zu benutzen. Mitdenken sollte man ihn dennoch, wenn man heute ZEIT liest, weil die Abfolge der Titel - zwischenzeitlich trug das Landschaftsprojekt den Namen ORTE - auch etwas Programmatisches hat: Die in einzelnen Bildern von verschiedenen Orten aufscheinende Heimat findet ihre Erfüllung in der Zeit, wie flüchtig und transitorisch auch immer. Reto Camenisch macht es einem nicht leicht, das seinen Landschaftsfotografien Gemeinsame zu ermitteln, die massgebenden Ingredienzien seines Heimatbilds herauszuziehen. Die Vielfalt seiner Motive ist nicht nur geografischer, sondern auch geologischer Natur, dramatische Ansichten von Bergen und Klippen in der Schweiz und in Neuseeland finden sich ebenso, wie sanft geschwungene Hügel und Küstenstriche, Panoramen, aus denen jede Spur menschlicher Einwirkung ausgespart ist, ebenso wie Bilder, die etwa am Beispiel eines ein Geviert mit einsamem Baum umschliessenden Lattenzauns im Schneesturm und verfallender Gemäuer im andalusischen Hochland offenbar die Vergeblichkeit zivilisatorischer Anstrengungen betonen wollen. Allen gemeinsam scheint lediglich die Intention, dem dunklen Abgrund der Zeit eine unverwechselbare Komposition von Linien und Licht zu entreissen, die in ihrem Zusammenspiel einen Widerhall im Innern des Fotografen auslösen. Bei keinem Bild ist ihm das womöglich faszinierender gelungen als bei seiner Aufnahme des Niesen im Berner Oberland, die den Berg auf eine Weise über einem mit Nadelbäumen besetzten, V-förmigen Talausschnitt festhält, dass er hinter einem schwarzen gezackten Saum, der durch einen hellen Wolkennebel akzentuiert wird, einen bei- nahe gleichseitigen Rhombus formt. Doch auch die fünf Kühe, die links im Mittelgrund des im Vergleich zu diesem spektakulären Kleinod eher unscheinbaren Lichtbild »Julier, Graubünden« auf einer von Geröll übersäten Bergwiese weiden, tun dies vor dem Hintergrund einer mächtig aufragenden Bergflanke, die von zerfliessenden Grauwerten, auf denen sich Wolkenschatten wie Felsbilder abzeichnen, gerade- zu gesättigt ist. «So ist der Berg aus einer gewissen Distanz und von unten gesehen. An ihm ist nur Steilheit, gelassener Sieg, fragloser Sieg. Der oberste Teil seiner Flanke, aus grauem, leise glänzendem, glattem Fels gleicht einem Schild, einem Panzer, einer feinen in Stahl oder Silber eingelegten Arbeit. Und das ganze lang gezogene Gebilde dieses Gipfelbaues vor den hellen Himmeln hätte vielleicht auch den Eindruck erwecken können von einem sehr grossen Schiff, das nicht in ein Erdenmeer nur, das in die Ewigkeit hinein führe.» Mit diesen Sätzen endet der erste Abschnitt von Ludwig Hohls BERGFAHRT, eine Erzählung, für deren Fertigstellung er sich mehr als dreissig Jahre Zeit liess. Wir müssen annehmen, dass Reto Camenisch‘ Fotografie auch in ihm eine Saite zum Schwingen gebracht hätte.
URS STAHEL Kurator, Zürich
Die Grenze scheint in einem Bild aus Lanzarote markiert zu werden, ... eine Grenze, die zu überschreiten ist. Im Vordergrund zeigt das Bild eine Strassenkreuzung. Ein Schild und eine markante weisse Bodenbeschriftung signalisieren »Stop«, zwei Wegweiser geben mit »Mirador del Rio« die Richtung nach rechts und mit »Arrecife« nach links an. Geradeaus steigt das Gelände allmählich an und öffnet sich, und mit ihm weitet sich der Blick und zieht sich an zwei nur undeutlich wahrnehmbaren, in die Landschaft eingelassenen Gebäuden vorbei hoch, legt die Beschränkungen ab und befreit sich. Reto Camenisch folgt weder dem Wegweiser nach rechts, noch nach links, vielmehr stapft er mit seiner Fotografie geradeaus weiter, lässt die Zivilisation und mit ihr die Geometrisierung der Natur, ihre Domestizierung zur Landschaft hinter sich, macht sich auf ins Offene und Weite, ins Hohe und Tiefe, ins Helle und Dunkle, ins Weiche und Harte. Er bewegt sich räumlich vorwärts und gleichzeitig auf der Zeitachse rückwärts, macht sich auf den Weg in ursprüngliche Landschaften hinein, sucht Welten, die den Begriff Natur verdienen, weil sie nicht oder kaum vermenschlicht, angeeignet, verändert, verwandelt, beherrscht und benutzt sind. Welten, die einer anderen Zeitvorstellung, einer anderen Raumaufteilung, einer anderen Rhythmik gehorchen – und einen anderen Klang haben.
Reto Camenisch stapft und schleppt, kreuz und quer durch die Welt: auf Lanzerote, im Berner Oberland, durchs Engadin, auf den Kilimandscharo, in der Auvergne, Bretagne, durch Andalusien, England, Irland, Neuseeland, Zypern, durchs Entlebuch, Glarnerland und entlang der tausendjährigen Arven durch den uralten Wald Tamangur. Er verlässt die Achsen der Moderne, entzieht sich dem Zeitraster der Gegenwart, und geht hinaus, geht so lange, bis der Brustkorb erst weiter und dann der Atem langsamer wird, bis ein anderes Gefühl sich breit macht, bis der Körper sich ergibt, müde, entspannt, gelöst, die schwere 4x5inch-Kamera und das Stativ abgelegt und anschlies- send aufgestellt sind. Reto Camenisch taucht ein, schaut in eine Ebene, die den Blick einsaugt und freigibt. Seine Augen wandern eine Felswand empor, die sich aus ihrem Sockel, vom Fuss der Wand aus in eine reiche Palette an Abstufungen und Vorsprüngen entwickelt, die das Bild »all over« überziehen und sich dem Blick entgegenstellen. Wuchtig und dennoch feingliedrig in den Grauabstufungen.
Wir schauen mit ihm in eine Senke hinunter, kräftig vom abfallenden Fels und Geröll hinabgezogen, und finden nicht ein düsteres Höllloch vor, sondern einen Aufschrei von Licht und Nebel, als öffne sich eine andere, umgekehrte Welt. Wir stehen vor einem dunklen Grat, der vorne von Nebel umspielt und hinten in die Silberschlieren des Fotopapiers eingetaucht ist. Ein Koloss der Natur, der sich auftürmt, als müsste er überwunden, gelöst werden wie ein Kloss im Hals. Wir durchwandern mit den Augen vulkanische und granitene Geröllhalden, tauchen in Gesteinsformationen ein, in Licht- und Schattenwurf, streifen durch bizarre Buschwälder, die sich wie wirre Staketen, wie ein Wall von Speeren in den Weg stellen, wandern über wilde Wiesen, die die nackte Erde wie ein Fell zu wärmen scheinen, vorbei an einem buschigen, langsam bewegten Arventanz, mit Blick hinauf in die Weite des ewigen Schnees. Schluchten ziehen den Blick nach hinten, vorbei an der linken Felswand, stockend an der rechten, imaginär den Weg weiterverfolgend. Dann öffnet sich die Welt, und wir schauen aufs Meer, ruhen am Horizont aus, gleiten über Gesteinsformationen, über Wasserflächen, beobachten die Gischt eines Sturmes, lesen Spuren im Fels, Spuren der Zeit, von Wind und Wasser, Niederschläge der Elemente. Pelzig, stopplig, borstig, sandig, samtig wirken die Flächen, über die unser Blick gleitet, oder ruppig, kantig, brüchig, kratzig, schorfig die Halden, die wir rauf- und runterkraxeln. Gefaltete, vernähte, gefleckte, schäumende Natur, die Wand vor den Augen, den Berg vor der Sicht, die Natur in der Seele.
Reto Camenisch stellt uns grossformatige Silbergelatineflächen vor die Augen, dichte schwarzweisse Niederschläge seiner Suche, seiner Sehnsucht, seines Gehens und Sehens, in denen sich Wolken, Nebelschwaden, Ausdünstungen der Natur mit dem Prozess der Polaroid- negativentwicklung vor Ort mischen. Die Flecken, Streifen, Spritzer oder Schwaden im Bild bewirken, dass die Bilder getränkt aussehen, als seien sie tief in den Papierträger eingesunken. Die Pola-Ränder, diese typischen Streifen, Flecken, Linien, Abschattungen am Rande von schwarzweissen Polaroid-Fotografien, wirken wie unausgeschlafener und doch wachsamer Blick und verstärken das Gefühl, einer Art von alchemistischem Prozess beizuwohnen, der das rein Verstandesmässige zurücklässt.
Wir sehen die Bilder, tauchen in sie ein, vergessen die Zeit. Sie sind das Resultat langer beschwerlicher Wege, einer Land-Art- oder Exis- tenz-Art-Reise, die Reto Camenisch so weit führt, bis das gesellschaftliche Leben verblasst und er in die Landschaft eintaucht, einsinkt, bis er mit ihr atmet, ihren Rhythmus aufnimmt, bis die Landschaft für ihn zu klingen beginnt und seine innere Natur mit der äusseren Natur eine verloren geglaubte Einheit auf Zeit eingeht.
Camenisch’ Fotografien sind Erfahrungs- und Wunschbilder. Wir leben »nach der Natur«, in einer Welt, in der die Natur ihre kritische Instanz als Gegenwelt zur Zivilisation und Gesellschaft eingebüsst hat, in der Natur in allen Ausformungen immer schon umgestaltet, von uns Menschen für irgendeinen Zweck gestaltet ist. Damit haben wir uns, insofern wir uns als Teil der Natur betrachten, eines wesentlichen Ankers selbst beraubt. Die einst glorifizierte Emanzipation von der Natur wird zum Bumerang, die gewonnene Freiheit zerrinnt angesichts der neuen »Basis einer vernutzten Natur« (Gernot Böhme). Reto Camenisch sucht sein persönliches »Heil«, seine temporäre Ruhe und Kontemplation auf seiner Suche nach Übereinstimmung von innerer Natur und äusserer Natur, nach Flecken auf der Erde, die noch ein rousseausches Eintauchen in der Natur erlauben, eine Einheit von Ich und Ort und Zeit. ... Einer der loszieht, um einzukehren, der sich aussetzt, um anzukommen, heimzukommen.
Seine Bilder visualisieren diese Suche, sie sind Ausfällungen der Sehnsucht nach kommunizierenden Röhren, nach einer funktionierenden Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und dem Objekt, die nicht von Beherrschung, sondern von Achtung und Würde geleitet ist, in der wir Agierende die Natur wie ein Instrument zum Klingen bringen. Seine Bilder sind kontemplativ, tief, aber auch ernst. Ihre Dunkelheit lässt keine Heiterkeit zu, sie scheinen zu ahnen, dass diese Ursprungsorte, die ein Eintauchen erlauben, Orte auf Zeit sind. Dieser Restboden wird uns wohl bald ganz unter den Füssen weggezogen, die letzte Natur verwandelt, genutzt, vernutzt sein. Der Ort der Unschuld ist ver- loren, wir (oder die künftigen Generationen) müssen wohl ganz durch die Trennung von der Natur, durch die Entfremdung hindurch gehen, um eine neue Versöhnung von Natur und Geist zu erreichen. (Hartmut Böhme)
Reto Camenisch’ Bilder scheinen diese Doppelung auszustrahlen: Sie sind fotografisch konkrete Spuren seiner Suche, seiner Erinnerung an die Unschuld, an das Eingebettetsein, das Aufgehobensein, sie sind Zeichen eines temporären Ausweges aus dem Rasen der Gegen- wart, und sie scheinen aber auch (in Abwandlung von Spinozas Begriffspaar) vom Untergang der sich selbst gestaltenden, gebärenden Natur, der Natura naturans, und von der Dominanz der Natura naturata, der (von Menschen) gestalteten Natur, zu künden.
Die Fotografie im 20. Jahrhundert erlebte den Bruch mit der heiligen Natur, das Ende der Bilder einer unberührten, unversehrten, einer pantheistischen Natur. Das heilige Naturbild von Carlton Watkins, Anselm Adams oder Minor White wurde durch die realistischere Foto- grafie der Topografen abgelöst, die zeigen, wie fortan die Natur umgewandelt wird, wie sie besetzt, genutzt, beherrscht wird, wie sie sich zum Territorium wandelt. Beispiele sind die Fotografien von Lewis Baltz, Joe Deal, Robert Adams unter einigen anderen. Dieser Schritt war zentral, weil sie der Landschaftsfotografie ihre Kritikfähigkeit, ihren visuellen Scharfsinn zurückgab und sie zu einem zeitgenössischen Analysemedium werden liess, das den aktuellen Zustand im Verhältnis von Mensch und Landschaft seismografisch festhält und dokumentiert. Gegenwärtig nun ist eine Rückkehr zum Landschaftsbild als Urbild, als Teil des Vorbewussten, als Teil der verschütteten Natur festzu- stellen. Sally Mann mit ihren Bildern des verhangenen, melancholischen amerikanischen Südens oder Jitka Hanzlová mit ihren Waldfoto- grafien als Sinnbilder psychischer Urzustände thematisieren wie Reto Camenisch mit seinen Naturorten den Verlust an Eigentlichkeit, an Ursprung, Urgrund und versinnbildlichen die Suche nach Tiefe, nach Einheit, nach Ganzheit in ihren Fotografien. Wir überprüfen unsere existenzielle Hülle und Lebensfähigkeit in der Spiegelung an der äusseren Natur. Doch innere und äussere Natur sind „endgültig zu etwas geworden, was vor uns liegt, zu einem Projekt“, schreibt Gernot Böhme, und die Wiederherstellung der Natur als einer humanen Natur sei eine der zentralen politischen Fragestellungen des 21. Jahrhunderts. Reto Camenisch’ Suche gebiert Urbilder, die uns stark an den Verlust von Natur erinnern, die wie Resonanzkörper aus der Tiefe von Raum und Zeit unsere eigene Natur mitklingen lassen.
BERNHARD GIGER
Direktor Kornhausforum Bern, Bern
Reto Camenisch – Porträts
Es gab Zeiten, so lange ist es nicht her, da war der Fotojournalismus Gradmesser der Qualität eines Printmediums. Der journalistische Anspruch einer Zeitung oder Zeitschrift manifestierte sich immer auch in deren Bildauftritt. Entscheidend für die Bildsprache eines Printmediums war der Umgang mit der Reportage: Eine Berichterstattung über mehrere Seiten, die in oft kleinen und scheinbar nebensächlichen Dingen den wahren Gang der Welt entdeckte; das Wechselspiel von grossformatigen, seitengrossen Bildern und kleinen Sequenzen; ein langer, vertiefender Text dazu – die Reportage war die Königsklasse des Prints.
Man wusste sich dabei in grosser Tradition. Der Fotojournalismus war ab den DReissigerjahren gerade in der Schweiz führendes Genre der öffentlichen Berichterstattung. Das Gefäss, für das Reto Camenisch viele Jahre regelmässig arbeitete, «NZZ-Wochenende» – später «NZZ-Zeitbilder» –, hatte einst Gotthard Schuh geschaffen, der von 1941 bis 1960 Bildredaktor an der «Neuen Zürcher Zeitung» war. Einerseits konnte Schuh in der Wochenend-Beilage eigene Reportagen veröffentlichen, andererseits verstand er die Seiten auch als Tribüne für neue fotografische Talente. Das sahen auch spätere Ressortleiter so, Mitte der Neunzigerjahre etwa, als plötzlich dieser Reto Camenisch aus Thun vor ihnen stand.
Heute, dünkt es einem zuweilen, wenn man die Zeitungen durchblättert, sind die Bilder gar nicht mehr dafür da, dass man an ihnen hängenbleibt. Schnelle Bilder für den schnellen Konsum, so ist das wohl gedacht. Es hat eh niemand mehr Zeit, länger hinzuschauen, weshalb also soll man mehr zeigen? Es gibt zwar immer noch die eine und andere Plattform für Reportage- und Dokumentarfotografie, und es gibt weiterhin Zeitungen, hier in Bern «Der Bund», zu deren Markenzeichen ein profilierter fotografischer Auftritt gehört. Mehr und mehr aber finden grössere fotografische Arbeiten Öffentlichkeit nur noch über Bücher und Ausstellungen. Was der täglichen Berichterstattung – die durch die Digitalisierung zwar schnell und dicht ist wie noch nie, aber deswegen nicht, wie viele meinen, auch transparenter – durch den Verlust des klassischen Bildjournalismus abgeht, zeigen uns die Bilder von Reto Camenisch beispielhaft.
Die meisten der hier ausgestellten Porträts entstanden im Rahmen einer Reportage für eine Zeitung oder ein Magazin. Mit Bänz Friedli war Camenisch für den «Rolling Stone» bei Sam Philipps in Memphis, in dessen Plattenfirma Sun Records die Karriere von Elvis Presley startete, und für «Facts» bei der Bluessängerin und Gitarristin Etta Baker in North Carolina – bei ihr lernte Bob Dylan einst Gitarre spielen. Mit Margret Mellert war er für die NZZ in Kairo, als George Gruntz dort mit seiner Band gastierte, er war mit ihr in den schottischen Highlands und, ganz anderes Ambiente, in der Kreativwerkstatt des Bürgerspitals Basel. Er besuchte für das «Du» Schweizer Bauern, und er traf in Rom Andrea Camilleri. In dessen Geburtsstadt Porto Empedocle auf Sizilien, dem Vigatà der Montalbano-Romane, machte er Strassenporträts von Passanten, die alle Personal aus Camilleris Kriminalgeschichten sein könnten. Und er fotografierte – nicht zuletzt, sondern über mehr als 20 Jahre – für die Berner Musikszene unzählige Covers und Booklets. Auch dies ist eine Art Berichterstattung über die laufenden Ereignisse.
«Ii sy das Giele gsii», Endo Anacondas Zeile aus dem «Landjäger»-Album von 1994, hat man rasch im Ohr, wenn man vor der Galerie der Musikerporträts in dieser Ausstellung steht. Dazu gesellt sich rasch ein bisschen Wehmut, es ist schliesslich auch ein schönes Stück eigene Biografie, der man hier entlanggeht: «Bälpmoos» für die Sehnsucht, «Redt sie no vo mir» für den Liebeskummer und «Di gfallene Ängel» für die guten Freunde, die schon gegangen sind.
Reto Camenisch, 1958 geboren, hat die Sprache der Schweizer Reportage- und Magazinfotografie von den Neunzigerjahren an mitgeprägt. Es war eine Fortsetzung des klassischen Prinzips von unbedingter Nähe und gebotener Distanz, nur sehr viel konsequenter: Ein ständiges Spannungsfeld zwischen strenger, manchmal fast unangenehm nüchterner Sachlichkeit und hautnaher, roher Emotionalität. Immer aber, in jeder noch so extremen Situation, und solche hat es viele gegeben, unbedingten Respekt wahren, dies jedoch auch im Wissen darum, dass man dennoch Grenzen überschreitet. Die hier ausgestellten Porträts zeigen eindringlich, wie viel man voneinander zu sehen bekommt, wenn man bereit dazu ist, sich unter die Haut schauen zu lassen. Denn nicht nur die porträtierte Person, das Modell, auch der Fotograf selber muss sich öffnen und einiges von sich preisgeben. Sonst hat er keine Chance, das zweite Gesicht des Gegenübers entdecken zu können.
Auffallend in den Reportagen von Reto Camenisch ist die klare Wahl der Standorte und Blickwinkel: Hier eine Ansicht, vielleicht eine Strassenkreuzung oder eine Häuserzeile, die für den Ort steht, von dem die Reportage handelt, dort ein Porträt, vielleicht ganz anderswo aufgenommen, und trotzdem ein Spiegelbild der Ortsansicht. Zwei Ansichten, ein Abbild. Diese Reduktion – oder vielleicht eher: diese Konzentration – der fotografischen Zeichen setzte Camenisch über die eigentlichen Auftragsarbeiten hinaus fort, in seinen freien Arbeiten, die im Lauf der Neunzigerjahre immer öfter wurden, bis er sich ganz für die Autorenfotografie entschieden hat. Was er unter Autorenfotografie versteht, zeigte er 1997 in seinem ersten grossen Bildband gleich ziemlich beeindruckend: In «Bluesland», einer Erkundung des Mississippi-Deltas, die in der Schweiz beginnt und voller Sehnsucht und Bitterkeit ist. «Bluesland» bewegt sich im Grenzbereich zwischen Reportage und Essay und gehört zu den herausragenden Arbeiten dieser Art in der Schweizer Fotografie des späten 20. Jahrhunderts. Wie so oft in seinem Leben war Reto Camenisch in «Bluesland» auf Tonspuren unterwegs. Aber diesmal machte er selber die Musik.
Die Ortsansicht – das kann auch eine Landschaft sein – und das Porträt: Dieser doppelte Blick auf die eine Realität, das ist die Arbeitsweise von Reto Camenisch bis heute geblieben. Er hat sowohl das eine wie das andere gradlinig weiterentwickelt. 2006 präsentierte er im Bildband «Zeit» Stein, Steppe, Wald und Wüste. 2009, auf seiner Reise durch Tibet und Nepal, fotografierte er im Himalaya-Gebiet 6000 Meter hohe, rabenschwarze, steinerne Kolosse, bei deren Anblick es einem die Sprache verschlägt.
Wie die schwarzen Berge fotografierte er auch die Menschen, direkt, mit einer unbedingten Entschiedenheit, alles zu brechen, was noch dazwischen sein und den Blick verwischen könnte. In seinen Porträts – man spürt durchaus die Bedeutung, die Richard Avedon für ihn hatte – gibt es kaum je Ablenkung, allenfalls kleine, ergänzende Hinweise durch einen Schattenwurf oder die Wahl des Aufnahmeorts. Aber selbst dieser verliert an Bedeutung: Für die letzte, in diesem Sommer und Frühherbst entstandene Serie der Ausstellung hat Camenisch die Modelle ins Atelier gebeten. In diesem funktionellen Gewerbebau, dessen nackte Wände und Fenster nur noch Hintergrund und Lichtquelle sind, ist alles ist weg, was nicht wirklich dazugehört. Es gibt nur noch das Gegenüber.
BAENZ FRIEDLI Publizist, Zürich
Warten auf Sam
Ein vierzigjähriger Hüne mit rötlichem Vollbart und braun gebrannter Haut, die sich über die markanten Wangenknochen spannt, betritt das Wohnzimmer. Samtenen Schrittes gleitet er über den königsblauen Flauschteppich. Sally, die Haushälterin, hat ihren Herrn fein zurechtgemacht. Lederstiefel, Silberkette, rotes Einstecktuch in der Jacketttasche, ein Amulett mit Miniaturmundharmonika – alles an seinem Platz. Der Mann, der einem nun die Pranke zur Begrüssung reicht, hat die Unwirklichkeit einer Wachsfigur; die Möblierung ist seit 1957 unverändert, die Klimaanlage verbreitet einen müffelnden Geruch; und als wollte der Nachmittagshimmel draussen vor dem grossen Fenster das Gefühl von Entrücktheit noch verstärken, fransen die Wolken in surrealem Orangeviolett wild durcheinander wie in einer Filmkulisse. Dies ist nicht heute, hier ist die Zeit still gestanden. In Wahrheit ist der junge Mann alt, das Haar gefärbt, die Haut gestrafft. «Seht mich an: ein 76-jähriger Rock-’n’-Roller!», donnert er nun und bleckt seine dritten Zähne.
Weisst du noch, Reto? Als wir Sam Phillips besuchten, den Erfinder des Rock ’n’ Roll, den Mann, der Mitte der 1950er-Jahre mit seiner Vision einer neuen Musik Amerika erschüttert und die Welt verändert hatte? Der grosse Musikproduzent, der Elvis entdeckt hatte: Sam Phillips. In einem eingeschossigen Vorstadthäuschen in Memphis, Tennessee, empfing er uns. Wir hatten wochenlang um diese Begeg- nung gebettelt, hatten Faxe geschickt, zigmal vergeblich angerufen, waren dreimal bei Phillips’ Sohn angetrabt. Der Bescheid war stets derselbe: Mister Phillips gibt keine Interviews. Ich hätte aufgegeben, du insistiertest. Und dann, nach Tagen des Harrens und Bangens, plötzlich der Anruf: Wir sollten in einer halben Stunde an der South Mendenhall Road sein, Haus Nummer 79. Sam Phillips erwarte uns.
«Du willst diesen Camenisch auf Reportage mitnehmen?», hatte es auf der Redaktion des hurtigen Nachrichtenmagazins geheissen, für das ich arbeitete. «Aber der ist doch so langsam.» Gott sei Dank, war dieser Camenisch langsam! Er hatte die Ausdauer, die Geduld, auf den richtigen Augenblick zu warten. Dann allerdings war er behünde. Deine Haltung, Reto, mag «langsam» sein, dein Suchen, dein Auf- spüren. Und dann bringst du die Menschen dazu, mit einem Blick, einem einzigen, ihre Geschichte zu erzühlen. Weisst du noch? Evelyn Turner, Ike Turners muntere Cousine, die in Clarksdale das «Crossroads» führte? Ein dreckstarrender Tanzschuppen, an dessen Wand das Schild hing: «Where there is dancing, there is hope!» Weisst du noch? Etta Baker, wie sie – damals 87-jährig – ihre Gibson Electric aus dem Jahr 1958 hervorkramte wie andere Urgrossmütterchen ihr Strickzeug, und mit welch hinreissender Leichtigkeit sie auf der E-Gitarre zu spielen anhob? Ich weiss, dass du dabei warst; aber ich kann mich nicht erinnern, dass du fotografiert hast. Du hast niemanden erdrückt, niemanden aus der Ruhe gebracht. Mit hoöchster Präsenz gehst du auf die Leute zu, dennoch unaufdringlich; mit Neugierde, aber mit Respekt. Weil du die Menschen gern hast. Daran muss ich denken, wenn ich dein Porträt von Sam Phillips betrachte.
Weisst du noch? Das Bild hat drei Wochen gedauert, in Wahrheit aber hattest du nur zwei Minuten Zeit dafür. Stunden sassen wir in Phillips’ Stube, Stunden, in denen er von seinem grössten Erfolg erzählte, der zugleich seine grösste Niederlage war: wie er 1954 die ersten, bahnbrechenden Aufnahmen mit Elvis Presley machte, wie er diesen aber nach nur fünf Singles und siebzehn Monaten, von einem perfiden Manager in die Enge getrieben, an die Grossfirma RCA verlor. Für die lächerliche Abgeltung von 35 000 Dollar musste Phillips den Sänger, der zum grössten aller Zeiten aufsteigen und eine Milliarde Tonträger verkaufen würde, ziehen lassen.
Erinnerst du dich, wie ausschweifend er erzählte? Wie sein Blick nach innen sank, wie er sich verlor – ahnend vielleicht, dass dies das letzte grosse Interview vor seinem Tod sein würde. Er flüsterte. Schrie. Verstummte. Wisperte unkontrolliert. Und brauste plötzlich auf, hellwach: «Ich wollte das Neue, Unerforschte, Unbewiesene anpacken, das noch keiner versucht hatte.» Eine unermessliche Pionierleistung wars, im streng rassengetrennten Amerika einen weissen Sänger dazu zu bringen, «schwarze» Musik zu singen. Umso mehr kränkte ihn, Phillips, später der Vorwurf, er habe die Musik der Schwarzen «gestohlen». Denn er hatte sie befreit. «Ich wollte Akzeptanz schaffen für die schwarze Musik, die ich so verehrte, und brauchte einen Weissen, um die Barriere zu durchbrechen: Elvis.»
Du hörtest zu, hast dann und wann eine Frage gestellt und kein einziges Mal abgedrückt. Du hast gewartet, bis Phillips dir – die Nacht zog schon herauf – zuraunte: «Wanna take a picture, eh?» Er stellte sich draussen im Halbdunkel neben den leeren Swimmingpool, sagte: «Elvis liess sich drüben in Graceland genau denselben bauen, nachdem er meinen gesehen hatte.» Und strahlte beides aus: den Stolz desjenigen, der um sein Lebenswerk weiss, aber auch die Verletztheit dessen, der sich darum betrogen fühlt. Und dann hast du den monumentalen Mann fotografiert. Auf deinem Porträt ist er beides, der tatendrängerische Rebell und der verletzliche Alte; das lebende Denkmal, die sterbende Ikone. Schon damals, Reto, hast du wenige Bilder gemacht, aber die richtigen. Viel später erst begriff ich, dass die Wochen und Tage davor, die Stunden des Wartens zu diesem Bild gehören. Du hast Sam Phillips Zeit gelassen. Zeit, er selber zu sein. Es ist ein grosses Wort, und ich wüsste keinen Fotografen, bei dem ich es aussprechen würde, aber ich glaube: Du schaust in die Seele der Menschen. Der Mann, der uns zur Tür geleitete, war nicht der strahlende Spund, der uns Stunden zuvor empfangen hatte. Phillips, vom Reden müde, von der Erinnerung aufgewühlt, war jetzt ein gebrechlicher, gebrochener Greis. Aber ich brauche sie gar nicht zu erzählen, die Geschichte; sie liegt ganz in dem einen Bild, Reto – du hast alles eingefangen. Ohne dich hätte ich Sam Phillips nie getroffen. Von dir habe ich gelernt, beharrlich, zugleich aber gelassen zu sein. Und ich bewundere sie, deine gelassene Beharrlichkeit.
FREDDY LANGER
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt
Bluesland
Auf der letzten Seite seines Bildbands bedankt sich der Fotograf Reto Camenisch bei seinem Verlag, bei einigen Sponsoren, bei allerhand Freunden - und bei Walter Liniger, dem er wohl eher zufällig in Columbia, South Carolina, begegnet ist. Gleich bei seinem ersten Besuch in Amerika habe er Camenisch alle Illusionen und Hoffnungen auf eine bessere Welt genommen mit der Frage: „Why do bad things happen to good people?“ Gleichsam wie ein nachgetragenes Programm steht sie nun über der gesamten Arbeit.„
Bluesland“ nennt der Schweizer Fotojournalist und -künstler sein Buch. Etliche Male hat er dafür seit 1992 die Städte und Landschaften des Mississippi besucht. Um das glanzvolle Abbild der Region war es ihm allenfalls am Anfang zu tun, als er noch nach bildgewordenen Klischees einer süß-bitter-traurigen Musik, aber auch der tragisch-heiteren Abenteuer der beiden Romanhelden Tom Sawyer und Huck Finn suchte. Sehr schnell jedoch begriff er, wie dem Vorwort zu entnehmen ist, daß er „keine Schönheit, kein Idyll“ finden würde. Das Land war karg und eintönig, die Menschen im besten Fall zurückhaltend und mißtrauisch. Die Spurensuche der Reise warf ihn deshalb immer nur auf ihn selbst zurück. Vielleicht blieb er deshalb nie länger als ein paar Tage, wollte jeweils früher weg als ursprünglich geplant, und kam doch schon bald wieder zurück. ,Weshalb widerfahren guten Menschen schreckliche Dinge?“ Diese Frage hatte ihn schon lange vor der Fahrt beschäftigt, seit mehr als dreißig Jahren, als sein Vater bei einem Jagdunfall in den Schweizer Bergen ums Leben kam. Reto Camenisch war damals noch ein Kind.
„Bluesland“ ist nicht in erster Linie die Suche nach dem Wesen eines Landes. Es ist die Suche nach einem Ort, der mit Heimat nur sehr vage beschrieben ist, ein Ort, von dem man hofft, daß sich dort Sehnsüchte erfüllten. Folgerichtig beginnt das Buch mit Aufnahmen aus der Schweiz, der unmittelbaren Umgebung des Fotografen: mit Interieurs in den Häusern von Verwandten, mit der kopfsteingepflasterten Gasse eines kleinen Ortes, dem Pfad über eine Alm - und dem Pfeil auf der Startbahn eines Militärflughafens, der in die Ferne zeigt. Wo gehört man hin, fragt Camenisch mit jeder seiner Fotografien. Wie richtet man sich ein? Und: Weshalb bleibt man, allen Widrigkeiten zum Trotz? Blues, wie ihn Reto Camenisch versteht, ist Trübsinn, Schwermut, Wehmut, vorgetragen im langsamen Tempo, die Tongebung ist instabil, „dirty“ heißt der Fachterminus. In düsteren, kontrastschwachen Schwarzweißbildern fand er die optische Entsprechung. Dem Text- muster des Blues, dem „Call and Response“, dem Wechselspiel von Anrufung und Antwort, das ein und denselben Sachverhalt zunächst eine zeitlang variiert, bevor die Pointe folgt, fügt sich im Buch die Reihung der Bilder von immergleichen, heruntergekommenen Bars, von verwaisten Stadtvierteln, öden Landstrichen - und Porträts der Bewohner jener geisterhaften Welt.
Der Regen hat die Glücksversprechen der Werbung von den Fassaden gewaschen. Der weiße Lack pellt sich von den Holzwänden
einer Kirche. „Our Place“ steht in schwungvoller Typographie über dem Eingang eines Ladens, vielleicht auch einer Bar - oder war es ein Schönheitssalon? Die Fenster sind mit Brettern vernagelt, das obere Geschoß ist rußverschmiert von einem Brand, der Dachstuhl einge- stürzt. Dazwischen Fotos von Menschen: Musiker auf der Straße, ohne Zuhörer. Ein Waffenhändler hinter dem Ladentisch, ohne Kunden. Ein Leichenbestatter vor seinem Geschäft. Noch einmal: Wo gehört man hin?
Tröstet der Blues? Oder ist er ein Wehklagen? Sind diese Bilder eine Klage? Oder spenden sie Trost durch die Erkenntnis, daß wenigs- tens die perfekte Komposition so etwas wie ein stimmiges Gefüge schafft, daß ihr es gelingt, selbst in einer Welt, die auseinanderfällt, eine Struktur zu offenbaren, die flüstert, alles habe seine Ordnung? „Bluesland“ ist ein bewegendes Buch. Es läßt sich kaum betrachten, ohne an Walker Evans zu denken, der während der Depression-Zeit der dreißiger Jahre in den ländlichen Gebieten des amerikanischen Südens nach einem Gefühl von Stolz suchte, stark genug, um den schrecklichen Auswirkungen der Dürrekatastrophen und der Wirtschaftskrise zu trotzen. Reto Camenisch steht auch in der Tradition eines anderen Schweizer Fotojournalisten und -künstlers, Robert Frank, der in den fünfziger Jahren Amerika geradezu aggressiv als eine Welt der Einsamkeit, der Verlorenheit, auch Verlogenheit interpretierte - er freilich mit einer radikalen Schnappschußästhetik. Camenisch aber war weder heroisch noch zornig zugange. Seine Arbeit ist geprägt von Melancholie, von tiefer Traurigkeit. Wie Tränen wirken bei ihm die vielen Pfützen auf dem regennassen Asphalt.
MARCO MEIER Publizist, Luzern
Das Augenmass der Melancholie
Das Porträt bleibt als Akt kultureller und künstlerischer Wahrnehmung so etwas wie ein aktueller Ewigkeitswert. Und das gilt gleicherweise für die Malerei und die Fotografie. Dieses mediale Flattern zwischen Selbsterzeugung und Objektivierung lässt einen als Betrachter nie kalt, weil man sich selbst im Angesicht von Porträts auf beiden Seiten mit denken kann, auf der Seite des Abbildenden und auf der Seite des Abgebildeten. Ein gelungenes Porträt bleibt immer irgendwie rätselhaft, weil es unablässig zwischen hoher Vertrautheit und völliger Fremdheit schillert. Medial und technisch bringt die Fotografie dieses Schillern am wirksamsten hervor. Fotografie ist eine melancholische Disziplin. Ihre mediale Kraft liegt in einem ungefähren Dazwischen. Sie ist immer mehr als das, was sie darstellt und festhält, und also ist sie immer auch etwas anderes als das Dargestellte. Sie ist somit das Darstellende von etwas Anderem, aber gleichzeitig auch von sich selbst. In der geglückten Fotografie bleibt eine verborgene Dynamik wirksam, obwohl ihr genuiner Gestus ein Festhalten mimt.
Der Kulturwissenschaftler Valentin Groebner formulierte in der Juni-Nummer des Merkur gar die These, die Fotografie präge rückwirkend bis zurück in die Renaissance unser Reden über die Abbildung einer Person. „Was heutige Betrachter auf fünf Jahrhunderte alten Porträts sehen“, sei wesentlich bedingt durch die technische Erfindung der Fotografie. Damit erklärt sich Groebner auch den überwältigenden Erfolg zweier Ausstellungen im letzten Jahr, die sich mit den grossen Porträtmalern des 15. und 16. Jahrhunderts beschäftigten, unter anderem auch mit Dürrer, Cranach und Holbein. Groebner ist überzeugt, dass Porträts der Renaissance zwar starke Wirkung auf die Zeit- genossen ausübten, allerdings nicht so sehr, „weil sie die Eigenheiten einer individuellen Person so exakt wiedergegeben hätten, sondern weil sie die Fiktion von Darstellbarkeit und Ähnlichkeit so virtuos für ihre Betrachter erzeugen konnten“.
Ob die Geste des Fotografierens unsere Wahrnehmung gemalter Gesichter bis zurück in die Renaissance massgeblich verändert hat, bleibt spekulativ. Ohne Zweifel spiegelt aber kein künstlerisches Genre die jeweils neuen Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit so direkt wie das Porträt. Es tun sich konzeptionelle Welten auf zwischen feinsäuberlich und statisch arrangierten fotografischen Porträts aus der Gründerzeit, als die langen Belichtungszeiten noch die kleinste Bewegung registrierten und zum Beispiel den ersten Bildern mit Selbstauslöser. Ein Polaroidbild, das seit den 70er Jahren als Instant-Aufnahme zu haben war, spricht eine völlig andere ikonografische Sprache als ein Selbstporträt mit digitaler Kamera. Das iPhone scheint jungen Menschen als eine Art Spiegel zu dienen, mit dem man sich bei jeder Gelegenheit vergewissert, ob man äusserlich noch die Person ist, als die man morgens aus dem Haus ging: das GPS der permanenten Selbstbespiegelung. Die Fiktion von Darstellbarkeit und Ähnlichkeit auf jeden Fall bleibt durch alle technischen Neuerungen der Bildproduktion hindurch wirksam.
Ein eigentlicher Kultur- und Generationenstreit hat sich vor Jahren am breitenwirksamen Übergang von der analogen zu digitalen Fotogra- fie entzündet. Der Kunstkritiker Hans Belting sprach von einer Zeitenwende. „Der Papierabzug, auf dem das Kamerabild auf alle Zeit fixiert gewesen war, gehört bald der Vergangenheit an. Die digital hergestellten Fotos lassen sich augenblicklich und weltweit versenden, wie sie sich auch jederzeit bearbeiten lassen. Es zählt nicht mehr der Moment, in dem wir den Auslöser bedient haben.“ Der Spiegel titelte einen Artikel über die digitale Fotografie vor einiger Zeit – „Bilder ohne Geschichte“. Mittlerweile publiziert das Nachrichtenmagazin kaum noch analog hergestellte Fotos. So schnell dreht die technische Spirale. Wirtschaftlich und medial ist die analoge Fotografie auf verlorenem Posten. Ein Pressefotograf, der seine Filme womöglich noch in der eigenen Dunkelkammer belichtet und entwickelt, kommt nicht mehr ins Geschäft. Digitale Bilder befriedigen den Informationsanspruch schneller und formal perfekt. Das scheint zu genügen.
Hier endlich sind wir bei der Porträtfotografie von Reto Camenisch angelangt. Jeder der in diesem Buch vorgelegten schwarz-weissen Porträtfotografien ist eine unverwechselbare Materialität eigen. Die darin angelegte Information wäre allerdings auch digital zu haben. Aber, so wage ich zu behaupten, die spezifische Körperlichkeit und Materialität lässt sich analog adäquater vermitteln. Körperlichkeit meint eine erlebbare Substanz, eine materielle Ausdehnung und verweist damit auf eine Lebenswelt, die ihre Bedeutung nur im exklusiv vorlie- genden Dokument des ganz und gar singulären Ereignisses dieser fotografischen Begegnung erzeugen kann. Der chemische Prozess zur Hervorbringung des Bildes vollzieht sich in der Folge wie die Wiederholung dieses Aktes. Das mag nach nostalgischer Überhöhung tönen, nach längst überlebtem künstlerischem Essentialismus. Es steckt dahinter nur bedingt ein kulturtechnischer Dreh, aber umso mehr das ästhetische Konzept von der Einzigartigkeit menschlicher Individualität und ihrer autonomen Darstellbarkeit. Michel Foucault hätte wohl vom „Souverän des Sichtbaren“ gesprochen. Aber warum sollte diese Sichtbarkeit analog besser gelingen als digital?
Die erwähnte materielle Ausdehnung reicht weit über eine blosse physische Körperlichkeit hinaus. Es ist damit eine raum-zeitliche Aus- dehnung angelegt, in der sich zwei Intentionalitäten, nämlich die des Porträtierten und jene des Porträtierenden, so ultimativ treffen, dass daraus in diesem Moment eine Evidenz des gegenseitigen Erkennens entsteht, die das gelungene Bild jeder interpretativen Nachbear- beitung zu entreissen scheint. Was sich dadurch technisch ereignet, gleicht der Wahrnehmung, wie sie der Phänomenologie methodisch zu Grunde liegt. Der Philosoph Vilém Flusser sah in dieser Geste der Fotografie ein „Beispiel dafür, wie die Technologie die Theorie hervorbringt“.
Der Fotograf Reto Camenisch wäre der Letzte, der sich diesbezüglich ideologisch auf einen Purismus einliesse. Als Leiter des Faches Fotografie an der Journalistenschule (MAZ) in Luzern weiss er um die grenzenlosen und phantastischen Möglichkeiten der digitalen Technik. Er weiss aber auch, was jedem Literaten oder Maler selbstverständlich ist, dass jeder Gegenstand kulturtechnisch und ästhetisch seine genuine Art der Darstellung verdient. Für seine hier versammelten Gesichter und Menschen hat er die analoge Annäherung gewählt, vielleicht, weil damit die „Fiktion von Darstellbarkeit und Ähnlichkeit“ (Valentin Groebner) für beide Seiten gleichwertig einen kurzen Moment von Verbindlichkeit erzeugt. Der gestalterische Grat in diesen Fotografien ist schmal. Den gültigen Ausdruck im Bild schafft Camenisch nicht nur mit der porträtierten Person selbst. Er arrangiert auch, mal mehr, mal weniger, setzt Momente von Kontextualisierung, die ab und zu gar mehr Raum bekommen, als die ins Bild gesetzten Menschen. Und immer dieses präzis geführte Licht, manchmal hart an der Grenze zur Dramatisierung. Wie ein Filter der Objektivierung legen sich die Grautöne der Schwarz-weiss-Bilder darüber. Und das Augenmass der Melancholie bleibt respektvoll gewahrt, als wären Fremd- und Eigenbild für den Bruchteil einer Sekunde identisch. Ob sich dieser Augenblick überhaupt ereignete, hat sich erst in der Dunkelkammer gezeigt
MARGRET MELLERT
Redaktorin NZZ / Zeitbilder, Zürich
Der Fotograf Reto Camenisch
Wenn es ein Muster gibt, ein Konzept, dem Reto Camenisch mit seinem Schaffen folgt, dann am ehesten dies, dass er dem eigentlichen Wesen der Dinge auf die Spur kommen will. Unerlässlich dafür ist die Klarheit des Denkens, das die äussere Erscheinung durchdringt, weil es sich der inneren Wahrheit verpflichtet weiss. Als ein Suchender ist er so unterwegs, geleitet von seiner Intuition, die ihn zum Resonanzkörper macht, wo immer ihm ein Klangfeld begegnet, in das er sich einschwingen kann. Ob eine Gegend ihn anrührt oder ein Mensch, der Prozess ist derselbe. Auch die Landschaftsbilder sind im Wesentlichen Porträts. Und das menschliche Antlitz ist eine Landschaft der Seele, in die der Forscher eintaucht, um sie zu ergründen. Vorzustossen bis zum Grund – dem Beweggrund, den man auch Motiv nennen könnte. Daher der Einklang: dass zwischen Mensch und Landschaft oder zwischen Mensch und Mensch gerade so viel Distanz ist, dass das Ganze im Blick bleibt und trotzdem die Tiefenschärfe das Kleinste erreicht. Weil nichts die Verbindung stört und zumindest einen Augenblick lang der Mensch und sein Gegenüber vollkommen eins sind.
Die Fotografie sei dann nicht mehr als der Punkt am Schluss eines Satzes, sagt Camenisch. Der Punkt gibt dem Satz nicht den Sinn, er schliesst ihn nur ab, wäre allein ohne das Vorangegangene nichts. Der Satz seinerseits aber bliebe unfertig ohne diesen Tupfer, der ihm so etwas wie die Würde des Vollendeten verleiht. Worauf wieder ein Neues beginnen kann.
Wie ja überhaupt Camenischs Leben und Tun ein Kontinuum des Neubeginns ist. Vielleicht könnte man gar behaupten, ihn interessiere nicht mehr, was er einmal beherrscht. Know how des schönen Bildes? Geschenkt! Karriere als erfolgreicher Werbe- und Reportagefotograf? Jahrelang gehabt, durchaus auch genossen – und schliesslich verworfen. Weiter gegangen auf einem anderen Weg. Und Weitergehen hiess: hinter die Fassade blicken. Sie abtragen, Schicht um Schicht. Strukturen wahrnehmen. Filigran herausschälen in kristallinem Schwarzweiss. Mit allen Schattierungen von Grau das Staunen lehren in grossem Format. Und nun auch diese Form der Meisterschaft hinter sich lassen, wenn erst durchschaut?
In seiner jüngsten Arbeit wendet sich Camenisch auch dem scheinbar Augenfälligsten zu: der Farbe. Also der äussersten Haut. Wirklich? Ist nicht gerade das Oberflächlichste zugleich auch das Tiefste? Hat das verwaschene Lichtblau, das einen Tempel umweht, nicht einen ähnlichen Sinn wie die Inbilder auf der Haut tätowierter Menschen? Ist Camenisch vielleicht dem Wesentlichen dadurch auf der Spur, dass er – immer wieder neu – jene Grenze aufsucht, wo das Sichtbare das Verborgene streift? Es beinahe zu enthüllen verspricht und es dann doch nur dem offenbart, der sich geduldig auf den Farbklang einlassen mag?
Ein prägendes Element dieser Arbeitsweise ist die Geduld, ganz im Widerspruch zu jeglichem Zeitgeist. Wie das Gehen am Berg: nicht senkrecht empor, nur den Gipfel im Sinn. Camenisch ist weder Nordwandkletterer noch Gipfelstürmer, erst recht kein Überflieger. Er geht so gemächlich, wie es das Gelände erfordert, Schritt für Schritt. Nimmt sich Zeit zum Innehalten. Verschnaufen. Sich besinnen. Wird Weggabelungen prüfen. Eine neue Richtung einschlagen, vielleicht. Umwege nicht nur in Kauf nehmen, sondern begrüssen: Sie lehren dich sehen. Und die Kräfte einsetzen, aber nicht überfordern. An die Grenzen gehen, gewiss. Darüber hinaus hie und da auch. Aber sicher nicht um irgendeines Bildes willen. Einem, dessen Motive im wahrsten Sinne des Wortes Beweggründe sind, kann man getrost glauben, dass es um das Erhaschen von Augenblicken nie geht, wenn er sich Äusserstes abverlangt. Dass er das Leben nur dem Leben zuliebe aufs Spiel setzt. Dem Menschsein.
DANIEL BLOCHWITZ Kurator, Zürich
Reto Camenisch: Das vierte Drittel und die Poesie der Angst
Illness is the night-side of life, a more onerous citizenship.
Everyone who is born holds dual citizenship, in the kingdom
of the well and in the kingdom of the sick. Although we all
prefer to use only the good passport, sooner or later each
of us is obliged, at least for a spell, to identify ourselves as
citizens of that other place.
Susan Sontag
Die Not, seinen Schmerz auszudrücken,
ist die Bedingung jeder Wahrheit.
Alexander Kluge
But what use is art if it can’t help us
look death in the face.
Julia Kristeva
The heaviest stone that melancholy can throw at a man
is to tell him he is at the end of his nature.
W.G. Sebald
_____________________________________________________________________________________________________________________
Kaputt
Mit dem Begriff kaputt assoziieren wir meist Dinge oder Zustände, die nicht mehr als heil bezeichnet werden können. Das eine gilt dem anderen als Gegenteil. Dabei existiert doch dazwischen eine relativ breite Grauzone aus Abnutzung und Zerfall sowie deren kreative, wenngleich temporäre Abhilfe des Provisoriums. Letzteres ist meist nicht wirklich eine Reparatur, sondern nur eine notdürftige Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit. Reinster Weder-noch-Pragmatismus. Also weder heil noch kaputt. Unfertig oder auch hinfällig. Vielleicht. Oder fast? Das meiste im Leben schwebt irgendwo in genau diesem Schwellenzustand. Und je älter man wird, umso mehr sucht man seinen Frieden darin, dass die Dinge, solange sie noch ihren Zweck erfüllen, eigentlich nicht erneuert, repariert oder ersetzt werden müssen. Das bedeutet nicht laissez-faire. Eher ein comme ci comme ça. Das Leben ist Improvisation.
Die eindeutige Diagnose kaputt ist dagegen mit der Einsicht verbunden, dass etwas am Ende seiner Funktionstüchtigkeit angelangt ist. Das kann endgültig sein oder einer lebensverlängernden Reparatur bedürfen. Uns ist bewusst, nichts hält wirklich ewig. Die natürliche Kondition der Dinge ist deshalb wohl auch eher die des Übergangs, der Transition – ständig wechselt etwas von einem Zustand in einen anderen. Ein ewiger Kreislauf von Materie und Kräften in einem geschlossenen System namens Erde. Denn gleichzeitig gilt eben auch: Nichts verschwindet wirklich.
Und doch erscheint aus der beschränkten Perspektive des menschlichen Lebens alles mit Anfang und Ende behaftet. Entsprechend erleben wir die uns gegebene Zeit dazwischen als unser eigenes Provisorium aus Lebensentscheidungen und der Fähigkeit, mit diesen umzugehen. Das Ende löst dann oft Bestürzung und Ängste aus. Die einem jeden Menschen zu eigene glückliche Fügung einer einmaligen Gelegenheit, im eigenen Körper als bewusstseinsbegabtes Wesen durch diese Welt streifen zu können, endet, wenn der menschliche Leib am Ende seiner biologischen Funktionsfähigkeit angelangt ist. Das ist nicht das Ende des durch uns verkörperten Lebens, aber das Ende der Person, die es in sich trägt.
Wenn unser Körper kaputtgeht, erlauben uns die moderne Wissenschaft und die neusten Technologien medizinische Eingriffe lebensverlängernder Reparaturen. Doch der Schock der Einsicht bezüglich eines existenzbedrohenden körperlichen Zerfalls geht tief unter die Haut. Er löst Beunruhigungen aus, weil der Tod genauso wie die Weite des Universums die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Es gibt dafür keine Referenz, keine greifbaren Bezugspunkte. Weder für Endlichkeit noch die Unendlichkeit.
Doch gerade Künstlerinnen und Künstler sind fasziniert vom Unvorstellbaren und suchen nach Möglichkeiten, diesem Gestalt, Form, Sinn und Bedeutung zu geben. Je weniger sich etwas wissenschaftlich durch Worte und Zahlen begreiflich machen lässt, umso mehr füllt eine Mischung aus Fantasie, Erinnerung und Imagination die Lücken, fügt Bilder zusammen und dann in die Leerstellen ein. Kunst ist vor allem auch Improvisation. Das Medium Fotografie bietet sich an, durch seine exakte Funktionsweise Zeiträume einzugrenzen und entsprechend zu beschreiben. Sie skaliert einen Sekundenbruchteil gefühlt auf eine halbe Ewigkeit. Das fotografische Bild überlebt den Moment der Aufnahme um ein Vielfaches und dehnt ihn gleichzeitig aus. Das erlaubt der Fotografie in besonderer Weise über das zu sprechen, was anders kaum zu fassen ist.
* * *
Der Fotograf Reto Camenisch hat zeitlebens Bilder von zeitloser Qualität geschaffen. Für seine Motive setzte er Fuss auf kaum kartografiertes Terrain und begab sich dorthin, wo die Dinge auseinanderliefen und ihren provisorischen Charakter wie selbstverständlich offenbarten. Eine Mischung aus Weltschmerz und Neugier scheinen Motivation und Antrieb des Menschen und Fotografen Reto Camenisch zu sein. Halb Suche, halb Flucht. Aber nie passiv. Nie nur Passagier, degradiert zum Warten aufs Loslegen, Unterwegssein und Ankommen. Camenisch aber musste eine Lücke füllen, die ein früher Verlust gerissen hatte, und manchmal schien die ganze Welt da hineinzupassen – ohne jedoch die Leere vollends füllen zu können. Also blieb er in Bewegung. Selbstbestimmt. Das Woanders als zweite Heimat. Fremder Ort. Ganz anders als die gewohnte Umgebung verspricht es keine Ablenkung und keine ungewollten Erinnerungen. Ohne die Reizspektakel hiesiger Gefilde richten sich die Sinne neu aus. Die Zeit verlangsamt sich. Runterkommen. Je weiter Camenisch schweifte, umso mehr fand er scheinbar zu sich selbst.
So auch in seinen Bildern, die er mit nach Hause zurückbrachte. Latenz der Erkenntnis, denn sie zeugen davon, wie jemand angelernte Gewissheiten aufgibt, um nach neuem Sinn zu suchen. Sie zeigen ein Pilgern nach innen, aber immer mit beiden Füssen auf dem Boden der Realität. Reto Camenischs Fotografien halten das Offene fest, wie ein Portal, das man als Betrachtender selbst durchschreiten kann.
Gleichzeitig merkt man den Bildern an, dass es um mehr geht, als um das darin Ersichtliche. Fotografie ist Annäherung an die Welt, aber auch Annäherung an das Selbst. Stetiges Fragen. Und immer wieder taucht es auf, dieses prägende Kindheitstrauma – der frühe Verlust des Vaters bei einem Jagdunfall. Reto Camenisch suchte in der Weite der Welt (und mit der Kamera) nach väterlichen Antworten und Verbindungen — und vielleicht auch nach einem ungekannten Gefühl des Umsorgtseins, das sich beschützend, fordernd und ermutigend zugleich äussert. Es ist sein Versuch, das Trauma zu verarbeiten. Aus eigener Kraft. Selbstfindung am Horizont. Seine Bilder durchziehen oft Verlustschmerz und eine gewisse Melancholie, jedoch auch nicht mehr als das faszinierte Staunen und wache Träumen über die Welt.
* * *
Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Aber Zeit kann auch Wunden reissen. Zeit in Form von fortgeschrittenem Alter bewirkt, dass sich unsere Körper weniger schnell regenerieren, dass sie verschleissen, anfälliger werden und schwächer. Die zeitlebens still abgelagerten Sedimente gesundheitsschädlicher Einflüsse und Stoffe in unserem Körper fangen an, ihre Wirkung zu entfalten. Sie nagen ungesehen in und an uns, entziehen uns bestimmte Dinge und lassen andere wuchern.
Unsere Körper sind hochkomplexe und daher anfällige Maschinen. Irgendwann geht auch eine gut geölte Apparatur kaputt, muss gewartet werden oder neu kalibriert, braucht Ersatzteile. Kaputt ist aber nicht gleich kaputt. Manchmal bedarf es nur des Festziehens einiger Schrauben. Manchmal reicht eine provisorische Lösung, um die Dinge einigermassen funktionstüchtig zu halten. Und manchmal ist eine umständliche Reparatur nötig – und möglich. Aber es gibt auch Reparaturen mit unbestimmtem Ausgang. Keiner weiss vorher, was sie bringen.
Wenn Krankheit bisher nur als gelegentliche, ungelegene, aber tolerierbare Belästigung auftrat, die lange Phasen einer geradezu als selbstverständlich angesehenen Gesundheit unterbrach, dann nimmt ihr Auftreten im Gewand einer lebensbedrohlichen Form eine völlig neue Dimension an. Plötzlich sehen wir uns mit dem Ende unserer eigenen Existenz konfrontiert. Mehr noch, man befürchtet ein mögliches Ende, begleitet von Leiden und Schmerz. Kein friedliches Einschlafen und nicht wieder Aufwachen, sondern eine Art Vorhölle aus Krankenhausgeruch und überehrgeizigen Engeln in weissen Kitteln, die jede noch so kleine Lebensverlängerung als Sieg über den Tod zelebrieren, sowie dem daraus erwachsenden Wechselspiel aus Hoffnung und Resignation für den Patienten.
Gerade Krebs ist eine Diagnose, die wir alle fürchten. Immer länger lebend wird jedoch die Wahrscheinlichkeit eines positiven Befundes mit jedem Lebensjahr grösser. Das zweischneidige Schwert Zeit schnitzt am Provisorium Leben – schöpferisch und destruktiv zugleich. Schwere Krankheiten zeigen und prüfen hier die Grenzen unserer Lebens- und Leidensfähigkeit, sind oft eine Warnung des Körpers, dass wir über unsere Verhältnisse leben oder gelebt haben. Körperlich so kaputt sieht man sich mit der eigenen Endlichkeit und grosser Ungewissheit konfrontiert und fällt oft kopflos in ein tiefes Loch aus Angst und Bereuen. So ist es auch Reto Camenisch geschehen.
Mehr noch, denn für ihn traf hier das Trauma des zu früh verstorbenen Vaters auf das Trauma der eigenen Krebsdiagnose. Laut Camenisch “macht es einen grossen Unterschied, ob man das Lied nur kennt oder dieses selber singt”. Plötzlich gesellt sich zum bekannten Bild vom Tod, mit der damit verbundenen Trauer über das ungelebte Leben seines Vaters und die so verlorene gemeinsame Zeit, der Schock über die eigene schwere Krankheit und die entsprechende Angst vor einer möglichen Lebenszeitverkürzung mit Ansage.
Susan Sontag beschreibt Krankheit im vorangestellten Zitat als einen Ort, dem wir auch zugehörig sind, aber dem wir ungerne innewohnen. Wenn wir uns dort gezwungenermassen aufhalten, verursacht das Ängste wie ein unfreiwilliges Exil, aus dem man unter Umständen nie wieder in die erste Heimat namens Gesundheit zurückkehren kann. In dieser ihm bis dato fremden Welt, “begann [Reto Camenisch] dem Unverständlichen Bilder zuzuweisen”. Für ihn war es in dem Moment die einzige Möglichkeit, zwischen seinem Exil und der Aussenwelt zu kommunizieren und seine Situation, so gut es ging, zu akzeptieren.
Margaret Iversen versucht, Fotografie in ihrem Buch Photography, Trace, and Trauma (2017) als Analogie für Traumata zu deuten, indem sie Parallelen zieht zwischen dem durch den automatischen Verschluss der Kamera quasi gewaltsam dem Licht ausgesetzten und dafür empfänglichen Filmmaterial sowie den seelischen Auswirkungen traumatischer Ereignisse. Beides hinterlässt unauslöschliche, wenngleich anfänglich latente Spuren. So ist es der “Automatismus des Mediums”, der “es mit der ursprünglichen traumatischen Erfahrung” verbindet und diese aufzeichnet, “ohne vom Subjekt richtig verarbeitet zu werden”. Durch die Belichtung verbindet sich die Aufnahme “mit der Verletzlichkeit des traumatisierten Subjekts” und erlaubt uns Bildbetrachtenden die Anteilnahme mit der “Geschöpflichkeit des Anderen”.
Das bringt uns wiederum zu Roland Barthes und seinem vielzitierten Buch Camera Lucida: Reflexion über die Fotografie (1980), “in dem es um die Verbindung zwischen dem Medium der Fotografie und den Traumata von Trennung, Verlust und Tod geht. Tatsächlich ist das Buch um das Trauma des kürzlichen Ablebens von Barthes’ Mutter herumstrukturiert, welches die Suche nach ihrem authentischen fotografischen Abbild und seine Überlegungen über den ‘essentiellen’ Charakter des Mediums veranlasste. Manchmal schrieb Barthes über die Fotografie, als glaubte er, sie sei in der Lage, das verlorene Objekt wiederherzustellen, das Abwesende präsent zu machen: ‘Eine Art Nabelschnur, die den Körper des fotografierten Dings mit meinem Blick verbindet: das Licht, obwohl ungreifbar, ist hier ein fleischliches Medium, eine Haut, die ich mit jedem teile, der fotografiert worden ist.’” (M. Iversen)
Der von Barthes geprägte, Melancholie-durchtränkte Begriff des ça a été (Es ist so gewesen) in Bezug auf das Wesen des Fotografischen betrifft im Falle von Reto Camenisch nicht nur den Verlust des Vaters, sondern auch die Trauer um das “gewesene” eigene Leben vor der Krebsdiagnose – ein Leben frei von hemmenden Angstzuständen, dafür voller Zuversicht. Der Rückblick verleiht diesem Perspektive und versetzt dem Herzen gleichzeitig einen Stich. Ja, wir verstehen unsere Existenz am besten aus dem, was gewesen ist. Fotografie fungiert hier als Atlas und Archiv gelebter Zeit. Hier war ich jung. Dieses Foto zeigt mich in Rom, dieser ewigen Stadt, und hier in Pompeji, der einstmals vergessenen. Hier war ich verliebt. Hier nicht mehr. Jedes Foto markiert eine Schnittstelle aus Ort und Zeit, Koordinaten des Lebens, so präzise und einzigartig wie der Code unserer DNA. Und doch war jeder abgebildete Moment so viel mehr, weil er durch Bewusstsein und Sinne auf- und wahrgenommen wurde und uns so prägte. Diese Koordinaten liegen nun hinter uns, verbinden sich dort zu einem Kurs.
Fotografien können so Erinnerungen bebildern, können helfen, diese zu verankern oder (manchmal) auch zurückzuholen, wenn sie uns verloren gehen. In vorfotografischen Zeiten vergassen die Menschen über die Jahre, wie ihr Geburtshaus genau aussah oder ihr bevorzugter Spielplatz oder auch ihre Lehrerin oder die erste grosse Liebe. Ja irgendwann erinnerten sie sich kaum noch an das genaue Aussehen der Eltern oder das ihrer Kinder, insbesondere wenn ein Wiedersehen durch Trennung oder Tod verhindert wurde. Was blieb, war meist schemenhaft, mehr Gefühl als Bild. Unbebilderte Erinnerung. Denn selbst das beste Gedächtnis kann kein detailreiches Abbild von etwas Geliebtem für immer festhalten – und die anderen bildenden Künste waren immer nur Annäherungen an wahres Aussehen.
Natürlich musste Fotografie dann dieses Zusammenspiel von Bild und Erinnerung grundlegend ändern. Nicht nur, weil es wirklichkeitsgetreu abzubilden vermag, sondern auch, weil es diese Bilder eben mit den historischen und biografischen Zeitlinien verwebt. Fotografie stützt, überlagert, perpetuiert und reproduziert Erinnerungen. Fotografie ist buchstäblich eine Erinnerungsmaschine. Und sie kann eigentlich gar nicht lügen, wie so leichtsinnig und gerne behauptet, es sei denn, es liegt in der Absicht oder Unvorsicht des Fotografierenden. Heute ist die Maschine jedoch heiss gelaufen. Noch nicht kaputt, aber am Anschlag. Die Bildproduktion ist so überwältigend, dass wir zwar wissen, dass wir diese Erinnerungen irgendwo abgelegt haben, aber oft vergessen, wo genau wir danach suchen müssen. Viele bleiben für immer latent. Wichtig und unwichtig, banal und relevant bunt durchmischt. Nur der Zufall lässt manchmal ein längst vergessenes Gesicht als Bild vor unseren Augen “wiederauferstehen”. Aber zumindest an das Aussehen unserer nächststehenden Lieben erinnern wir uns heute ein Leben lang, wissen im Detail um bestimmte Merkmale, ja, können sogar jedes Erscheinungsbild einem bestimmten Alter zuordnen. Im Zweifelsfall jederzeit aufgefrischt durch den Blick auf (irgendwo) abgelegte Fotografien.
Aber mehr noch: In den sich vervielfältigenden Erinnerungen verfängt sich die Melancholie umso leichter in all den dort sichtbar gebliebenen Spuren unseres gelebten Lebens und geliebter Menschen. Auf ewig in Bilder gezeichnet, bleiben all die schönen und auch unschönen Momente abrufbar, ohne dass sie je vergessen gehen können. Wir trauern aber nur um das, was uns vorher lieb und wichtig war. Der Verlust einer abgebildeten Person oder Sache wird besonders bewusst als Abwesenheit wahrgenommen, wenn allein das Bild übrig geblieben ist. Das erklärt auch, warum Melancholie von Anfang an ein ständiger Begleiter der Fotografie war, warum Trauma und Tod das Medium als Wesenszug und Thema schon immer begleitet haben. Wie Margaret Iversen schreibt, war und ist Fotografie immer weit offen für das traumatische Ereignis der Belichtung, ja muss es sein. Sie ist aber auch selbst Trigger für das Öffnen seelischer Wunden, kann Trauma aus den Tiefen des Unterbewusstseins wieder hervorholen.
* * *
Bilder vom Tod und von Toten. Gerade in den ersten Jahrzehnten des damals neuen Mediums liessen sich auf den vergleichsweise schwach lichtempfindlichen Materialien die Lebenden ungleich schwerer einfangen. Louis Daguerres erste Fotografie von 1839 zeigt dann auch scheinbar menschenleere Strassen, bis wir verstehen, dass die Zeit, die es für diese Aufnahme brauchte, menschliche Existenz relativiert. Leben verschwimmt im Fluss der Zeit bis zur Unkenntlichkeit, wirft nur geisterhafte Schatten. Die Anwesenheit einer bestimmten Person am fotografierten Ort zur fotografierten Zeit lässt sich aufgrund der nötigen Langzeitbelichtungen in den Bildern kaum belegen. Den Koordinaten fehlt noch die Präzision. Selbst für Porträtaufnahmen ist der Kopf fixiert oder angelehnt. Die Augen tragen Schleier des mehrfachen Blinkens. Walter Benjamin weiss in seiner Kleinen Geschichte der Photographie (1931) zu berichten, dass frühe Porträtfotografien oft an sehr abgeschiedenen Orten aufgenommen wurden, um ungestört lange belichten zu können, und erwähnt in diesem Zusammenhang Octavius Hill, der viele seiner Aufnahmen “auf dem Edinburgher Friedhof von Greyfrias” angefertigt hat. Etwas weiter unten im Text weist er dann belustigt darauf hin, dass die Requisiten eines Porträtstudios zumeist den Zweck hatten, “der langen Expositionsdauer wegen … den Modellen Stützpunkte” zu geben.
Aufgrund der langen Belichtungszeiten war es entsprechend folgerichtig, dass Menschen für das Einfangen von Porträts in den Anfangstagen des Mediums immobilisiert waren. Die Pose als Improvisation. Neben steif Sitzenden und anlehnend Stehenden waren es dann aber die Toten, die besonders still für die Kamera ruhten. Eine frühe fotografische Anwendung waren so auch Trauerbilder. Fotografen entdeckten Verstorbene als Sujet für sich und bedienten bald eine hohe Nachfrage. Das Medium konnte zügig und preiswert ein bleibendes und letztes Bild für die Hinterbliebenen liefern und so der Trauer ein Gesicht verleihen.
Auch in der zeitgenössischen Fotografie finden wir Beispiele zuhauf, in denen Künstlerinnen und Künstler Sterben und Tod in Bildern verarbeiten. Doch wird heute der Tod im Bild oft tabuisiert. Sally Mann, beispielsweise, die für ihre Serie What Remains (2003) auch auf einer sogenannten body farm (einem zu wissenschaftlichen und forensischen Zwecken angelegten Geländes der Universität von Tennessee, auf dem Leichen der oberirdischen Verwesung preisgegeben werden) fotografierte, entgegnete der an ihr geübten Kritik: “Es gibt eine neue Prüderie in Bezug auf den Tod. Wir haben ihn ins Krankenhaus verlegt, hinter Bildschirme und tragen keine schwarzen Markierungen mehr, um seine Anwesenheit anzuerkennen. Er ist unaussprechlich geworden.” Das Sterben und der Tod sind Themen, mit denen wir uns nur ungern auseinandersetzen, schon gar nicht im Bild.
Vielleicht ist ja auch ein bisschen Aberglauben dabei, eine gewisse Angst davor, dass Krankheit oder gar Tod durch das Bild übertragen werden könnten. Dabei ist es ja vielmehr eine Art letzte Chance, den einstmals Lebenden als solchen in Erinnerung zu behalten. Die Legende der Schutzheiligen der Fotografie, der heiligen Veronika, geht dann auch auf die Überlieferung zurück, dass auf dem Tuch, das Veronika dem todgeweihten Jesus reichte, damit dieser sich sein Gesicht abwischen konnte, auf mysteriöse Weise sein Abbild erschien. Durch die Ikone bleibt der Nachwelt das Gesicht einer verehrten Person in Erinnerung. Ja mehr noch: Sie wird Spätergeborenen erst durch das nichtalternde Abbild bekannt. Sally Mann hat immer versucht, solche Ikonen des Gewesenen in eine jetzige Zukunft zu holen. Je länger sie durchs Leben schritt, umso vertrauter wurde ihr das Ableben. Wir wissen vorher nie, welches das letzte Bild sein wird. Dieser klare Blick auf das Unausweichliche hatte etwas Instinktives, Atmosphärisches und konsequent Analoges. Lichtspuren auf handgefertigten Glasplatten. In einer späteren Serie wendete sich Sally Mann in besonderer Weise ihrem Ehemann Larry zu und begleitete ihn fotografisch bei seiner fortschreitenden Muskeldystrophie. Jedes Bild war dabei wie die zärtliche Geste der Veronika.
Der deutsche Fotograf Rudolf Schäfer hat in seiner Serie Der Ewige Schlaf: Visages de morts (1988) sehr eindringliche Porträts von Toten gemacht. Meist war nur der Kopf vom Leichentuch enthüllt. Letzte Bilder von Menschen, denen das Leben noch wie Schlafenden ins Gesicht geschrieben steht, deren Ableben wie die Latenz von Fotografien irgendwie noch nicht ganz abgeschlossen scheint. Etwas anders bei Walter Schels, der für seine Serie Noch mal leben vor dem Tod (2004) Sterbende in Berlin und Hamburg vor und nach ihrem Tod porträtierte (seine Partnerin Beate Lakotta nahm gleichzeitig Interviews mit den Porträtierten in ihren letzten Tagen auf). In dieser Serie bleibt kein Zweifel, dass die letzte Station im Leben der Porträtierten erreicht ist. Ein letzter Funke in einem Bild, erloschen im zweiten. Was beide Projekte eint, ist das Finale. Fotografische Totenmasken. Doch was in den Trauerbildern des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer Technik unikale Fotografien waren, ist heute reproduzierbar. Aus einem geliebten Menschen werden vervielfältigte Erinnerungen. Wie auch Totenmasken selbst erlaubten sie es Hinterbliebenen so, ein Abbild des Verstorbenen mit anderen zu teilen. August Sander fotografierte für die letzte Mappe aus seinem Lebenswerk, Die Menschen des 20. Jahrhunderts, nicht nur Kranke, Sterbende und Tote, sondern auch die Totenmaske seines eigenen, 1944 im Gefängnis der Nazis verstorbenen Sohnes Erich. Dieses schliesst das finale Kapitel mit dem schwierigen Titel “Die letzten Menschen” ab. Die Totenmaske selbst übernimmt die unmittelbare Rolle des “Trauerbildes” für die Familie Sander (im Auftrag der Familie vom Künstler Hans Schmitz gefertigt), während sich deren fotografische Reproduktion dann in einen grösseren Kontext einreiht und stellvertretend für die Toten steht, vielleicht ja auch gerade für all die zu früh und/oder gewaltsam zu Tode Gekommenen.
Die Totenmaske ist die Überlieferung des Angesichts, ist Ikone und Abbild des Ablebens zugleich. Sie enthält, was nicht mehr ist.
* * *
Reto Camenisch beschreibt seine Krebsbehandlung als Tortur, bei der er festgezurrt einer Maschine ausgeliefert war. Insbesondere die passgenaue Maske, die seinen Kopf fixierte, um eine punktgenaue Bestrahlung zu erzielen – präzise Koordinaten –, verursachte regelmässige Panikattacken. Seine Sinne waren komplett eingeschränkt, nur ein Nasenloch erlaubte das Atmen. Der freie Geist und der freie Blick gefangen. Dieses Ding erinnerte ihn denn auch an eine Totenmaske, “aufgereiht mit anderen ‘Totenmasken’ in einem Gestell und stirnseitig mit [seinem] Namen” versehen, und er verspürte nach Abschluss der Behandlung “den Drang, diese zu fotografieren, sie so mit nach Hause zu nehmen”. Wohlgemerkt, nicht die Maske selbst, nur dieses eine Bild. In gewisser Weise nicht für, sondern gegen die Erinnerung. In jedem Fall blieb es “das einzige Bild, welches in dieser neuen Arbeit direkt Bezug auf [seine] Erkrankung nimmt”. Denn völlig ausgelaugt und kaputt von der kräftezehrenden Behandlung wollte Camenisch nichts um sich haben, das ihm diese Zeit regelmässig ins Gedächtnis zurückrufen sollte.
Und während das aus dem Französischen (capout) entlehnte Wort kaputt erstmals während des Dreissigjährigen Krieges auftrat und so viel wie ‘etwas zugrunde richten’ bedeutet und dem damit oft sehr militärisch geprägten Vokabular der Krebsbehandlung entspricht, wie schon Susan Sontag in ihrem Buch Illness as Metaphor bemerkte, entstammt das Wort für Kopf dem Lateinischen (caput).
Das Gefühl der Bewegungsunfähigkeit und Hilflosigkeit, mit dem festgeschraubten Kopf, weckte bei Reto Camenisch vielleicht auch unbewusste Assoziationen an den Vater: Damals in den Glarner Alpen bei der Jagd gestürzt, ein “Schlag ins Genick hatte die Wirbel wuchtig verschoben, dergestalt, das sie scherengleich das nervenreiche Mark weitgehend durchtrennten”; es liess ihn gelähmt eine Nacht und einen Tag überleben – “Sehen, Hören, Sprechen war noch möglich. Sonst nichts.”
Die ähnliche Schreibweise von capout und caput kommt dem Autor hier entgegen, denn das Haupt trifft auf kaputt, und das in mehrfacher Hinsicht, was wiederum auf das verweist, was Julia Kristeva sowohl in einer Ausstellung, Capital Visions (1998), im Musée du Louvre als auch im späteren gleichnamigen Buch (2012) thematisiert hat: das Bild des abgetrennten Kopfes. “Wenn der Kopf vom Körper getrennt wird”, schreibt Eric Morse dazu im FRIEZE Magazine (Issue 146, 3/2012), “übernimmt der daraus resultierende Schädel eine sakrale Logik des ‘Schnitts’, oder, wie Kristeva es erklärt, ein primäres menschliches Verlangen, mit einem prägnanten Federstrich die ‘Grenze, die das Sichtbare vom Unsichtbaren’ oder das Sein vom Nichtsein trennt, einzuschreiben.” Der abgetrennte Kopf repräsentiert das Bewusstseinszentrum des Menschen – dort, wo normalerweise unmittelbare Sinneseindrücke empfangen und verarbeitet werden – und damit auch Austragungsort körperlicher Schmerzen und seelischen Leidens.
Und während dem kopflosen Camenisch während der Krebsbehandlung die Welt abhanden kam, ihn leiden liess und ihn in Panik versetzte, konnte er im Anschluss das Bild seiner “Totenmaske” als Trophäe mit nach Hause nehmen, nicht um sie dort an der Wand zur Schau zu stellen, wie es sein Vater mit seinen Jagdtrophäen tat, sondern eher um Gewissheit zu haben, dass er nur temporär vom Leben abgeschnitten war. Er braucht das Bild also nicht als persönliches Andenken, sondern vielleicht eher, wie der Fotograf August Sander das Bild der Totenmaske seines Sohnes, für einen erweiterten Bedeutungsrahmen, der uns Betrachter mit einschliesst. Für den Autor dieses Textes ist es gar wie ein Sinnbild für die Einschränkung von Sinneseindrücken, was (körperliche) Freiheit durch die Ermangelung erst besonders erfahrbar und begehrenswert macht.
Reto Camenisch war noch über seine Krankheit und schulmedizinische Behandlung hinaus in seinem Kopf gefangen, noch nicht wieder frei, zu leben, wie es die Lebenden, die Gesunden tun. Also begab er sich nach Indien in eine Ayurveda-Kur, in der er seinen kaputten Körper und verängstigten Geist wieder in einen heilen Zustand zurückzuführen versuchte. Oder zumindest darauf hoffte, dort ein provisorisches Level zu erreichen, bei dem man wieder empfänglich wird für all die wunderbaren Reize der Welt, kurz: die Wiederherstellung einer fast uneingeschränkten Lebensqualität.
* * *
Es gibt keine verlorene Zeit. Zeit ist immer unsere. Auch Zeit, die man “ungenutzt” verstreichen lässt oder verstreichen lassen muss, ist nicht vergeudet. Manchmal will, kann oder darf man Zeit nicht anders nutzen. Denn auch solche Zeiten gehören zum Leben – ja sind lebenswichtig. Gerade wem nur noch ein überschaubares Stück Lebenszeit bleibt, aufgrund von Krankheit oder hohem Alter, der mag um die Dinge trauern, zu denen man im Leben nicht gekommen ist. Aber vielleicht ist es auch die Einsicht, dass man zu viel Zeit mit zu vielen bedeutungslosen Dingen angefüllt hat und zu wenig Zeit einfach langsam hat verstreichen lassen. Wir glauben immer, das Leben am meisten zu spüren, wenn wir es besonders intensiv, mass- und rastlos verbringen. Dabei ist es wahrscheinlich genau das Gegenteil. Das Leben macht sich dann vor allem bemerkbar, wenn wir uns in Müssiggang versenken oder uns gar der Langeweile preisgeben.
Heute gelten Warten, Leerlauf, Pause, Innehalten, Ruhe, Reflexion, Erholung, Schlaf, Unterbruch als unproduktiv. Aber was wir nicht tun, bleibt nur ungetan. Und all die Dinge, die wir heute praktisch simultan tun, bleiben meist ungelebt. Die Koordinaten, die uns verorten, sind nicht nur präzise und einzigartig, wie eingangs geschrieben, sondern auch eindeutig und einmalig. Das klingt nach einem Wortspiel. Doch wir sind nur einmal und können immer nur eins tun. Unsere Zeit. Unser Leben. Es ist so gewesen (R. Barthes). In arrested moments bewahren wir Bilder voller Detailreichtum und Erkenntnis.
Doch oft werden solche Momente der absoluten Entschleunigung auf das Wort Nichtstun reduziert. Ein grosses Unrecht an unserer wertvollen Zeit. Unsere leistungsorientierte Ära verlangt vom Nichtstun höhere Effizienz. Wenn wir jedoch etwas tun, während wir eigentlich vorgeben, nichts zu tun, zweckentfremden wir das zweckfreie Nichtstun. Aber im Ernst, wer kann heute noch zweckfrei nichts tun? Langeweile ist ja praktisch ausgestorben. Und so wird ihr wichtiger Einfluss auf unsere schöpferischen Kräfte und Leistungen wohl bald als Mythos der Vergangenheit angehören. Die Ruhepole unseres Lebens werden immer kleiner. Das macht auch krank.
Doch selbst Krankheit und die Zeit der Genesung wird heute oft mit Nichtstun assoziiert. Die heile Welt ist rasende Optimierung, ständiges Wachstum. Heilung dagegen ist notwendigerweise Entschleunigung und Remission. Wenn man sich nun durch Reto Camenischs neue Bilder blättert, spürt man das sofort. Es ist die Rückbesinnung auf Zeit – Zeit, die seine eigene ist. Auch diese fliesst natürlich stetig, aber im selbstgewählten Tempo. Eine Emanzipation von den Zwängen und Erwartungen hetzender Aussenzeit, diesem wuchernden, obsessiven und sich ständig vervielfältigenden Anspruch. Doch auch der gewählte Ort ist hierfür wichtig. Ja, Entschleunigung ist heute meist ortsspezifisch. Nur hier kann sich noch die Zeit ausdehnen, wird sie vom hohen Tempo entwöhnt. Es kann unter Umständen (auch) beängstigend sein. Aber es ist heilend.
Und damit beginnt nun der eigentliche Teil von Reto Camenischs Buch. Hier verabschieden sich die Worte und hier beginnen die Fotografien. Es ist der Teil, der nur in Bilder gefasst werden kann, weil die Sprache uns die Worte dafür verweigert, die richtigen zumindest; solche Worte, die uns wie bestimmte Sinneseindrücke schlagartig Erinnerungen, Emotionen und Erkenntnisse ins Bewusstsein rufen. Worte können manchmal wie das platte “Ja” des Verköstigten auf die Fragen sein, ob es denn geschmeckt hat, auch wenn dieser eigentlich eine eloquente Beschreibung beabsichtigte, die auf Zunge und Gaumen wahrgenommenen und zueinander in Beziehung stehenden Geschmacksnoten, Aromen, Texturen, Aggregats- und Garungszustände treffend und anerkennend zu umreissen.
Bilder transportieren mehr, können vieles zugleich ausdrücken. Zumindest wenn man sich bei der Betrachtung Zeit lässt. Dann eröffnen sie eine Welt, die fast rauschhaft erfahrbar ist, wie tausend kleine Explosionen auf unseren Geschmackszellen. All die kleinen Nuancen, Verweise, Zwischentöne und Referenzen kommen in Bildern zusammen, die auf den ersten Blick einfach erscheinen mögen, aber hochkomplex sind. Das ist die Kunst. Wer schon das Salz in der Suppe zu schätzen weiss, wird im indischen Curry eine Erweckung der Sinne finden, um hiermit nun auch die kulinarische Metaphorik auszureizen. In jedem Fall, nimmt in Camenischs Bildern alles Bedeutung auf: Licht, Komposition, Zeichen. Und es kommen auch Farben ins Spiel. Denn plötzlich übten sie eine grosse Kraft auf diesen Künstler aus, der die Welt zuvor fast ausschliesslich in Schwarzweiss festgehalten hat – “verursachten pure Freude. Um nichts möchte ich diese Erfahrung missen”, schreibt Camenisch.
Und so begleiten wir Reto Camenisch, dem immobilisierenden Zustand von Operationstisch und Behandlungsbett entflohen, auf seinem Weg nach Indien, bei seinen nächtlichen Streifzügen um seine Hütte auf dem parkähnlichen Grundstück des Ayurveda-Hospitals, durch angstvoll durchwachte Nächte, aber auch bei den ersten zaghaften Versuchen, die Welt, seine Welt neu zu entdecken. Seine Fotografien sind dabei absichtslos und absichtsvoll zugleich, changieren zwischen dem, was er zu erkennen glaubt, und dem, was er sich neu erschliessen muss. Die Dinge kommen in den Fokus und treten wieder hinaus. Drinnen. Draussen. Kammer. Und Kamera.
Anfänglich also noch dunkel. Schwaches Licht. Wie zum Verweis auf Susan Sontags Formulierung zur “Nachtseite des Lebens”. Atmosphärisch dicht. Man blättert langsam. Chronologische und assoziierende Sequenz. Mehr Film als Fotografie. Wegbegleitend. Im wahrsten und im übertragenen Sinne. Man weiss am Anfang nicht, wohin die Reise geht. Aber man spürt in den Bildern eine, nein, nicht Orientierungslosigkeit, sondern vielmehr Neuverortung, ein Vortasten nach Halt und Richtung.
Die Nacht versagt dem Auge und dem Apparat jede Form der Weitsicht. Wenn man aus der Finsternis einer schweren Krankheit wieder ins Leben tritt, langsam, sich an das Licht gewöhnend und die Welt neu erkundend, dann findet man es anders vor, als es die eigene Erinnerung bereithält. Das hat an sich schon etwas Fotografisches. Es verweist auch nochmals auf Margaret Iversens Überlegungen zur Fotografie als Analogie von Trauma und wie beide nachhaltigen Einfluss auf unsere Erinnerungen ausüben. Reto Camenischs zwei Traumata – der frühe Verlust des Vaters und der Schock einer am eigenen Leib erfahrenen lebensbedrohlichen Krankheit – zeichneten ihn seelisch und körperlich. Doch so wie das sorgfältige Wässern den (analogen) fotografischen Entwicklungsprozess abschliesst, um in der Sprache des Mediums zu bleiben, so half auch seine Zeit im Ayurveda-Hospital in Südindien, Körper und Geist von Giften und Ängsten zu reinigen sowie Inspiration und schöpferische Kräfte wiederzufinden.
Jedes Leben ist immer die eine Version von unendlich vielen möglichen Varianten. Und es kann immer nur dieses eine sein. Dieses eine mag unter einem bestimmten Stern stehen, wenn man so will, aber – nochmals – es liegt wohl an der uns eigenen Art, Entscheidungen zu treffen und mit den Gegebenheiten umzugehen, um später den eingeschlagenen Kurs einsehen zu können. Egal wie unwägbar es im entscheidenden Moment erschien, es lief auf ein Einziges hinaus. Mit anderen Worten, wir befinden uns immer am Anfang, egal, an welchem Punkt im Leben wir stehen. Jeder Moment ist immer der Beginn des kommenden Weges. Ein neuer Morgen. Kaputt war gestern. Das Glück ohne Plan, aber erhobenen Hauptes. Reine Improvisation. Für Reto Camenisch ist dies der Anfang des vierten Drittels seines Lebens und eine sich erneuernde Sicht auf die Welt.
BALTS NILL Schrifsteller, Musiker
Versuch über das Subjektiv
Kein Schreibfehler: Nicht das Subjektive, sondern das Subjektiv ist Gegenstand dieses Aufsatzes.
Was das sein soll, das Subjektiv? Ich weiss es auch nicht. Aber eigentlich müsste es existieren, allein schon aus sprachlichen Gründen.
Es gibt die Begriffe Objekt und Subjekt.
Es gibt die Begriffe Objektivität und Subjektivität.
Es gibt das Subjektive und das Objektive.
Und es gibt ein Ding, das heisst Objektiv, es gehört zu jeder Kamera.
Es scheint mir logisch, dass es auch etwas wie ein Subjektiv geben müsste. Aber das Subjektiv taucht in keinem Wörterbuch auf. Es scheint weder als Ding noch als Vorstellung zu existieren. Aber ich habe den Begriff, und ich will seine Bedeutung finden, und wenn ich sie nicht finde, erfinde ich sie.
*************************************
Meine erste Kamera mit Wechselobjektiven kaufte ich mir mit dem Geld, das ich mir mit einem Ferienjob bei der Müllabfuhr verdient hatte. Das Geld reichte für ein sogenanntes Normalobjektiv von 50 Millimeter Brennweite und ein 250 -Millimeter Teleobjektiv. Was natürlich nichts war im Vergleich zu den Kanonen der Sport- und Tierfotografen. Ganz zu schweigen von den Apparaten, die die Sterngucker auf ihre Kameras schrauben. Aber schon dieses Objektiv gab einem das leicht berauschende Gefühl, den Raum zu durchdringen und vielleicht irgendwo ein verborgenes Objekt aufzustöbern. Ein aufregendes Gerät in der Hand eines Fünfzehnjährigen, fast wie ein Motorrad.
*************************************
In den «Wanderjahren» bekommt Wilhelm Meister Gelegenheit, eine Sternwarte zu besuchen. Zuerst betrachtet er vom Turm aus mit blossem Auge den Himmel:
«Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte.»
Daraufhin bittet ihn der Astronom ins Observatorium. Er hat das «vollkommene Fernrohr in bedeutender Grösse» auf den Jupiter gerichtet.
Lange versenkt sich Wilhelm in den Anblick des Planeten und seiner Monde.
Dann wendet er sich an den Astronomen, mehr verlegen als begeistert:
«Ich weiss nicht, ob ich Ihnen danken soll, dass Sie mir dieses Gestirn so über alles Mass näher gerückt. Als ich es vorhin sah, stand es im Verhältnis zu dem übrigen Unzähligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in meiner Einbildungskraft unverhältnismässig hervor…»
Wilhelm spürt die Macht des Fernrohrs – aber nicht als Erweiterung seiner eigenen Macht, sondern umgekehrt: Das Gestirn, das er durchs Fernrohr sieht, kommt ihm zu nahe. Überproportional gross erscheint ihm der aus dem Himmel herausgeschnittene Jupiter.
Wilhelms Einbildungskraft wird gereizt, in seinem Innern droht etwas aus den Fugen zu geraten.
*****************************************
Das Objektiv: Eine Röhre, in der Linsen so angeordnet sind, dass sie ein Abbild eines Objektes erzeugen können – auf einer Leinwand, auf lichtempfindlichem Papier oder auf der Netzhaut des Auges. Eine Erweiterung des Auges - oder dessen Überlistung?
Vielleicht beides. Galilei bastelte sich (nach dem Vorbild des holländischen Brillenmachers Lipperhey) seine eigenen Ferngläser und entdeckte die Jupitermonde. Grosse Begeisterung, aber auch grosse Gefährdung, weil er daran war, den Himmel der heiligen Kirche zu entzaubern.
Hundertfünfzig Jahre später - das Fernrohr ist längst im Alltag angekommen - lässt Goethe seinen Wilhelm durch ein Teleskop blicken - und dieser erschauert. Nicht dass er in seinem Glauben erschüttert würde (er, der Bildungsreisende, hat keinen gefestigten Glauben), erschüttert wird er aber in seiner Seele und seinem Verstand.
Unter dem Eindruck des Gesehenen holt er zu einer allgemeinen Kritik aus und erklärt « dass diese Mittel, wodurch wir unseren Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben.» Selbst eine simple Sehhilfe ist ihm suspekt:
«Wer durch Brillen schaut, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äusserer Sinn wird dadurch mit seiner inneren Urteilsfähigkeit ausser Gleichgewicht gesetzt;» und fährt - als hätte er selber eine Brille auf der Nase - ziemlich altklug fort: «es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres , Wahres mit diesem von aussen herangerückten Falschen einigermassen auszugleichen.»
***********************************
Ach! Höre ich eine Stimme im Hintergrund. Die alte Leier vom Sittenzerfall durch Technologie. Bei jeder Gelegenheit wird sie von den Kulturpessimisten heruntergebetet!
Wie langweilig.
Ja, wie langweilig. Und es kann gut sein, dass diese Kritik an Teleskopen und Brillen schon zu Goethes Zeit altbacken und hoffnungslos veraltet wirkte. Doch vielleicht liegt gerade im Unzeitgemässen ihre Brisanz. Denn Technologiekritik kommt immer zur falschen Zeit: entweder zu früh, weil noch keine Erfahrungen vorliegen. Oder zu spät, weil die Erfahrungen bereits zu Gewohnheiten geworden sind.
(Für ein plötzliches Erschrecken über die Gewohnheit ist allerdings jeder Zeitpunkt gerade richtig oder falsch…)
Wilhelm mag ein Technologie-Skeptiker sein; aber ein Kulturpessimist ist er nicht. Im Gegenteil: Um die Überforderung der Sinne durch technologische Hilfsmittel auszugleichen, bedarf es einer «höheren Kultur».
**********************************
«Wenn du das Objektiv montierst, vergiss das Subjektiv nicht».
«Was ist das für ein Ding, und wo bekomme ich es her?»
«Keine Ahnung. Aber vergiss es nicht.»
*************************************
Vor einigen Jahren sah ich Reto Camenisch in einer Diskussionsrunde am Fernsehen. Anlass waren Pressebilder von einem Flugzeugabsturz in der Ukraine. War es vertretbar, Nahaufnahmen von der Absturzstelle zu zeigen, auf denen auch tote Passagiere zu sehen waren?
Ich erinnere mich nicht mehr an die Details der Diskussion. Ich weiss nur noch, wie Reto Camenisch sich wand, seinen Standpunkt darzulegen: Klar war für ihn, dass er solche Bilder nicht veröffentlichen würde. Aber das Argument, dass solche Bilder nur der Sensationsgier dienten, griff ihm zu kurz. Mir schien, er wollte auf etwas anderes hinaus, etwas, das in dieser journalistisch geprägten Diskussion nicht vorgesehen war: Reto Camenisch versuchte darzulegen, dass für ihn bei solchen Bildern etwas Grundsätzliches nicht stimmt: Nämlich das Verhältnis zwischen dem fotografierenden Subjekt (eiliger Reporter) und dem fotografierten Objekt (tote Menschen).
Mit diesem Problem schlug sich nicht der Journalist, sondern der Künstler Reto Camenisch herum. In der TV-Runde wirkte er wie aus der Zeit gefallen.
*********************************
In einer Galerie sah ich Reto Camenischs Bergbilder in ihrer ganzen Grösse. Beim Betrachten von Schwarzweiss- Fotografien höre ich manchmal ein Summen. Bei diesen Bildern war es besonders stark, wie ein Bordun-Ton. Während Monaten war Reto Camenisch im Himalaya- Gebiet unterwegs. Zu einer Zeit, als es längst Digital-Kameras gab, trug er eine schwere analoge Grossformat- Ausrüstung durchs Gebirge. «Es gab Berge» sagt er mir, «die waren schön. Meine Begleiterin sagte jeweils: Warum fotografierst du diesen Berg nicht? Ich konnte darauf nicht antworten. Es gab Berge, die sprachen mich an, andere nicht».
Reto Camenisch schreibt mir in einer Mail von seiner «Suche nach einem möglichst unverfälschten Ort», seiner Hoffnung «auf ein Ausbleiben von weiteren Fragen. Stille». Und fügt an:
«Klingt das jetzt romantisch oder gar verklärt»?
Ich sehe im Romantischen nichts Schimpfliches. Und ich lege nach mit Eichendorffs Wünschelrute:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort
Ein Gedicht der Weltflucht? Romantische Verklärung - oder vielleicht doch Aufklärung?
Ich behaupte, in den vier Zeilen steckt eine gehörige Portion Erkenntnistheorie.
Ersetzen wir Wünschelrute durch Kamera.
Die Dinge sind nicht tote Objekte, sondern es hängt davon ab, wie ein Subjekt sie betrachtet, ob sie stumme Dinge bleiben - oder ob ich sie zum «Singen» oder zum «Sprechen» bringen kann. In die Optik übersetzt: ob ich sie zum Leuchten, Schimmern (was immer) bringen kann. Oder ob sie mich (das fotografierende Subjekt) abweisen mit undurchdringlicher Schwärze oder blendendem Licht. Oder schlicht durch matte Gleichgültigkeit.
Fotografie als die Kunst, die Dinge ins richtige Licht zu rücken, so dass sie nicht mehr blosses Objekt sind - sondern zum Sujet werden - einem lebendigen Gegenüber, das auf einmal den Blick des fotografierenden Subjekts erwidert.
***********************************
Als Kind besass ich ein kleines Plastik- Fernrohr. Manchmal drehte ich es um und blickte von der falschen Seite hinein. Es war faszinierend zu sehen, wie das Nahe auf einmal in die Ferne rückte.
***********************************
Immer noch auf der Suche nach dem Subjektiv.
Ich weiss, was ein Subjekt ist: Zum Beispiel jemand, der durch eine Kamera blickt.
Ich weiss, was ein Objekt ist: Das, was durch die Kamera erblickt wird.
Ein Klick, und das Objekt ist gebannt.
Die meisten der über tausend Milliarden Fotos, die weltweit jährlich geschossen werden, dürften diesem Muster entsprechen.
Was für Bilder aber entstehen, wenn das Objekt auf einmal lebendig wird, zum Sujet wird, das durchs Objektiv zurückblickt? Und was ist die Voraussetzung dafür, diesen Moment, da ein Ding zurückblickt (oder spricht oder singt) überhaupt wahrzunehmen?
Ich weiss nicht, wie das Sensorium beschaffen sein muss, das diesen Moment erfassen kann. Man spricht gern vom «fotografischen Auge», das es zu entwickeln gelte. Ob es nur das Auge ist?
Oder ob das Objektiv, damit es eine lebendige Beziehung zu den Dingen schaffen kann, noch viel mehr fordert? Ein Sinnesorgan, Seelenorgan, das bis in die tiefste Persönlichkeit reicht?
Ist es das, was das technische Objektiv fordert, um ein sinnstiftendes Werkzeug zu sein: das Subjektiv als sein menschliches Gegenstück?
*************************************
Als Reto Camenisch für fünf Wochen nach Indien reiste, hatte er keinen Auftrag als Fotograf.
Seine einzige Aufgabe war, zu sich zu schauen. Was auch bedeutet, in sich zu schauen.
Er hatte Bücher bei sich, die ihm wichtig waren. Ein Notizbuch. Und auch eine einfache Kleinbildkamera.
Mehr zum Scherz frage ich mich: Was tut eigentlich ein Fotograf, wenn er nach innen schaut? Schraubt er dann ein Subjektiv an die Kamera und fotografiert sein Innenleben?
Geht nicht, ist mir schon klar: Muss er dann auf die Sprache ausweichen? Nach innen horchen?
Reto Camenisch hat das ein Stück weit getan. Er hat ein Tagebuch geführt und Zitate, die ihm wichtig sind, gesammelt.
Aber er hat eben auch fotografiert. Vermutlich anders als sonst. Nicht mit dem Blick des Objektjägers (eine Rolle, die er in den vergangenen Jahren ohnehin immer mehr ablegte).
Die Fotos, die er aus Indien mitgebracht hat, haben eine Beiläufigkeit, die sie fast zu Nicht- Fotos macht. Eine Laube, ein Stuhl, ein Bett, eine Strassenlaterne.
Es ist nicht möglich, das Innere zu fotografieren. Und Reto Camenisch kehrt auch nicht das Innere nach aussen, indem er Symbole suchen würde. Keine Symbole. Nur Licht, Schatten und Dinge, die - wer weiss - drauf und dran sind, zu sprechen.