NEW YORK, WILLIAM KLEIN & DER ZORN DES FOTOGRAFEN
Referat in der Photobastei Zürich anlässlich der Ausstellung «NEW YORK, der entfesselte William Klein» am 29. September 2024
Es gab immer mal wieder Versuche Massgültigkeiten und Bezugsgrössen für Begriffe wie Schönheit & Ästhetik zu definieren. Gelingt die Ausmarchung solcher Referenzen überhaupt, wird von diesen auch gerne behauptet, dass sie von einer Mehrheit getragen würden, was wiederum meint, dass diese somit keinen Widerspruch dulden.
Ich glaube jedoch, dass mit dem Begriff Mehrheitsfähigkeit im Grunde der Dinge nur eine Masse von Übereinstimmungen gemeint sind, die mehr durch ein Teilen von diffusen Emotionalitäten entstehen, als denn als Resultat differenzierter und systematischer Untersuchungen. Ich lese solche Ansagen als Trends mit sehr, sehr flüchtigen Halbwertszeiten.
Mir fällt jedoch auf, dass sich solche Ansprüche und Erwartungen an die Künste gerne auf ein gefälliges Verständnis von Anmut, Eleganz oder Erhabenheit reduzieren. Wie im richtigen Leben wollen unangenehme und störende Ereignisse tunlichst vermieden werden, dies auch, wenn zeitgleich behauptet wird, man wisse dass der Wunsch nach einem störungs - und leidensfreien Leben eine Utopie sei. Die zügellose Feedback-Kultur, welche - wenn überhaupt - auf feuilletonistische Besprechungen auf den sozialen Plattformen folgen und die im Moment offensichtlich grundsätzlich herrschende Rohheit im alltäglichen Umgang miteinander, schüchtert auch Veranstalter und Kunstschaffende ein. In der Folge wagen viele nicht mehr, sich diesen gefälligen Muster, Formen und Verhaltensweisen mit widersprechenden Positionen in den Weg zu stellen. Die Bühnen für eine Gestaltung von Aggression, Zorn oder Wut blieben in den letzten Jahren aus und wie mir scheint, vermeidet auch das kunstinteressierte Publikum solche Begegnungen, ja lehnt diese gar ab. Ich komme etwas später und kontextualisierter auf diese Behauptung zurück.
Im Diskurs mit William Klein's Arbeiten, in kunsthistorischen Besprechungen seiner Persönlichkeit - und auch in der öffentlichen Diskussion - tauchen die Adjektive aggressiv, zornig und wütend auffallend oft und hartnäckig auf. Vorallem aber sind diese sprachlichen Zuweisungen negativ konnotiert. Ich habe mich immer mal wieder gefragt, warum dem so ist? Im Verständnis moderner Psychoanalyse ist Wut ein menschlicher Primäreffekt und gilt emotionspsychologisch, neurobiologisch und evolutionär als Grundbedingung unseres Menschseins. Sie ist Teil unserer Ich-Werdung und unserer Menschlichkeit. Warum also diese Abneigung gegenüber einem Menschen und Künstler, welcher diese Grundbedingungen akzeptiert und somit in sein Werk oder gar in sein tägliches Leben einfliessen lässt? Warum gilt das fast grundsätzlich oft als unschön?
William Klein studierte Soziologie, er muss also ein grosses Interesse in der Betrachtung von Erscheinungsformen, Entwicklungen und Voraussetzungen für gesellschaftliches Leben gehabt haben und ich bin mir sicher, dass diese Prämisse auch eine der grundlegend antreibenden Kraft seiner Fotografie, seiner Kunst war. Und während er in den Strassen von New York seine fotografischen Feldstudien betrieb, wurden seine eigenen sozialen Kompetenzen, seine Vorstellungen von Gerechtigkeit, seine etwaig ethisch-moralischen Parameter in Frage gestellt. Sein akademisches Wissen und daraus abgeleitete Erkenntnisse und Glaubenssätze wurde durch Selbsterfahrenes überprüft und erwies sich im Nachhinein wohl des Öfteren als absurdes Gerede.
Er trieb sich also in den Strassen von New York City rum, innerhalb der Bronx, Brooklyn, Manhattan, Queens und Staten Island. Er beobachtete die privilegierten Hausfrauen des aufkommenden Mittelstandes, welche ihre Einkaufswagen durch die prallgefüllten Regale der neuen Shopping Malls in der Upper West Side navigierten. Und er erlebte die Spielplätze der heruntergekommenen Brick Houses in Harlem, da, wo hispanische und afroamerkanische Kinder den Nachmittag alleine und unbehütet auf den Strassen rumlümmelten, in den Vierteln also, wo Vulgär-Darwinismus und reine Muskelkraft oben und unten definierten. Die Unterschiede ethnischer Herkunft - und was diese bezüglich sozialer und wirtschaftlicher Prosperität möglich machten oder verhinderten - sind ihm sicherlich aufgefallen. Und ich vermute mal, dass diese Ungerechtigkeiten in ihm Wut erzeugt haben. Anstatt jedoch den beim Anblick von Elend und Ungerechtigkeit enstandenen Zorn ungefiltert und unkontrolliert weiterzugeben, wandelte er das, was ihm unerträglich schien in fotografische Energie um, vielfach endend in Bildwelten von bedrohlicher Ästhetik und ich glaube mit kathartischem Effekt.
Der Mensch ist in seiner Natur gewalttätig, das gehört zum Menschsein. Überwinden kann man nur, wenn man weiss, was es zu überwinden gibt, und somit geht einer solchen Transformation eine Anerkennung eben dieser menschlichen Eigenschaft voraus. Dieser Logik widersprach William Klein offensichtlich nicht. Auch in diesem Sinne beeindruckten mich Kleins, unmissverständlich, direkt und hart formulierten Bilder. Erst viele Jahre später realisierte ich jedoch, warum diese mehr als eine Anklage zu verstehen waren: Klein handelte ohne einzugreifen, eine zutiefst demütige Haltung. Er vermied es, das Vorgefundene, das vermeintlich Unerträgliche in den Darstellungen so zu manipulieren, dass dieses für Jane und Jim Doe erträglich wurde. Klein war kein Schöngeistler, er sah die Schönheit im Unverfälschten.
Gesellschaftliche und soziokulturelle Defizite stimmten ihn hässig und genauso hat er diese dokumentiert. Es mag widersprüchlich klingen, wenn ich seine Anklagen als urteilslos bezeichne und zeitgleich behaupte, dass seine Position unmisserverständlich lesbar blieb. Gnadenlos direkt und sich oftmals vielleicht gar an der Grenze von Vulgarität bewegend, das ist seine Bildsprache, sein genuines Interesse am Abgründigen. Hemmungslos stellte er sich den Blicken der Portraitierten entgegen. Fausthieb nah. Er war nicht einfach nur dabei, sondern mitten drin. Er begnügte sich nicht mit einer akademisch distanzierten Beobachtung und seine Bilder waren auch nicht diejenigen eines Voyeurs. Er war immer Beteiligter dieser fotografierten Augenblicke und Szenarien. Er versteckte sich nicht mit einer langen Brennweite bewaffnet hinter einer Strassenecke oder verdunkelten Windschutzscheiben eines klimatisierten Autos. Er besass keine Widelux Kamera und versteckte diese unter einem langen Mantel um im richtigen Moment - und einem Exibitionisten gleich - diesen zu öffnen, damit er sich ein Bild stehlen konnte. Er stellte sich nicht nur den Menschen und Situationen schonungslos gegenüber, sondern auch sich selber. Klein war wohl auch das, was man als «ä fräche Siech» bezeichnet. Nicht jedoch in der derben Tradition derjenigen Zeitgenossen, die anderen ungefragt die Kamera vor die Fresse klatschen, sich dann schnell aus dem Staub machen und gleichzeitig auch noch behaupten, sozialkritische Fotografie zu betreiben.
Er war ein wütender Zeitgenosse, in seinem Naturell vielleicht gar aggressiv. In diesem Sinne war er ein unangenehmer Mensch. Einer derjenigen Sorte, die man eigentlich nicht mag, denn er störte die mehrheitsfähige Vorstellung darüber, dass Fotografie uns ausschiesslich den Blick auf das Schöne zu eröffnen hat. Dieser seltsame Anspruch ans fotografische Bild hat bis heute überlebt, sich gar weiter pervertiert. Ausdruck für diese Behauptung ist unter anderem, die von künstlichen Intelligenzen überarbeiteten Hundertschaften von Selfies junger Menschen, deren Konterfei nach den Vorbildern ihrer schwerkranker Promis geglättet und gepudert auf den sozialen Medien publiziert werden. Man zeigt nicht wie man ist, sondern wie man sein möchte, die Suche nach Unverfälschtem war gestern.
Zurück zu William Klein: Ich weiss von einigen seiner Galeristen und Wegbegleiter, dass er auch in der gesprochenen Sprache und innerhalb seines Durchsetzungsvermögen tendenziell hart und aggressiv wirkte. Auch wenn ich William Klein nie persönlich getroffen habe, wage ich zu behaupten, dass es sich im persönlichen Umgang mit seiner unmissverständlichen Direkt - und Klarheit gleich verhält, wie mit der Interpretation seiner Bildwelten: Die meisten kommen mit der Konfrontation dessen, was er als Wirklichkeit beschrieb nicht klar. Klein liess seine Mitmenschen kaum mit der Rätselfrage stehen, wie er das, was er jetzt gerade gesagt hat, wohl gemeint hat?!
Seine Fotografie ist so, wie er auch als Mensch war: Direkt, unverfälscht und ohne jeglichen ästhetischen Firlefanz.
ÜBER TRENDS UND DAS DABEISEIN
«Kurze Antwort auf einen Linkedin Beitrag» 10. Februar 2024
In einem Beitrag einer Linkedin Community von FotografInnen, KuratorInnen und Visuellen GestalterInnen wurde - absurderweise - behauptet, dass es für eine zeitgenössische FotografIn von überlebenwichtiger Bedeutung wäre Trends zu kennen und /oder diesbezüglich auf dem Laufenden zu sein!? Mit Verlaub: Das zu behaupten halte ich für kompletten Unsinn. Man kann nicht dasselbe tun wie hundertausend andere und dann für sich auch noch in Anspruch nehmen „anders und individuell“ zu sein! Dass die Integration von Trendelementen Anpassungsfähigkeit aufzeigt, erachte ich gelinde formuliert gar als Unfug und töricht. Der/die FotografInn unterscheidet sich von anderen, weil sie ihrer ureigenen, inneren Stimme vertraut und das selbst, wenn sie selber diese noch nicht ganz versteht!
Derartiges Verständnis von Arbeit und Prozessen ist weitaus kräftezehrender und langwieriger, als das unentwegte, opportunistische Schielen auf visuelle Trends und technologische Entwicklungen. Darum behaupte ich: Trends sind vorallem für Menschen bedeutungsvoll, die nach schnellen und bequemen Lösungen suchen. Die Halbwertszeit visueller Trends ist in der Regel erbärmlich kurz und ich würde mich kaum auf solche Modeströmungen einlassen - und schon gar nicht verlassen wollen. Jedenfall nicht, wenn Tiefgründigkeit und Langfristigkeit das Fundament meiner Arbeit bilden soll.
REPLIK
«Traktat über die Verirrten: Plästina-Konflikt demaskiert die radikale Linke»
NZZ 11.12.23 von Benedict Neff
Das Pamphlet des NZZ Feuilleton Chefs vom 11. Dezember 2023 offenbart in eindrücklicher Art und Weise die komplette Abwesenheit einer Eigenschaft, welche ich erweitertes Verantwortungsbewusstsein nenne. Es ist ja nun nicht so, dass dessen Einschätzungen per se falsch wären. Es gibt sicherlich viele "linke Kräfte" die Antisemitismus schüren, sich hierfür gar berechtigt fühlen und das verloren haben, was man als Bodenhaftung bezeichnen könnte. Einverstanden.
Unmenschlichkeit, Dummheit, Ignoranz und Bösartigkeit jedoch nur in ein politisches rechts oder links einzuordnen, betrachte ich als ein Dümpeln in Niederungen intellektueller Dürftigkeit. Diese Form von Meinungsäusserungen waren und sind auch nie konstruktiver Beitrag zur Überwindung und Veränderung gesellschaftlicher Defizite. Ob dieser Mann weiss was er tut? Ich kann das kaum einschätzen, auf jeden Fall aber tut er das, was er tut doch in sehr herablassender Manier.
Diese hemdsärmlige Verkürzung komplexer Inhalte, dieses Simplifizieren auf ein Rechts-Links-Muster und der Versuch kollektiv zu diffamieren entbehrt jeglichen Respektes und noch mehr fehlt es an Professionalität. Der junge Mann will offensichtlich gefallen und hinterlässt eine ziemlich peinlich gestaltete Visitenkarte. Auch fehlt diesem in Germanistik, Geschichte und Religionswissenschaften wohl ausgebildeten Menschen das, was offensichtlich immer noch nicht - oder nicht mehr - Bestandteil einer guten journalistischen oder akademischen Ausbildung zu sein scheint: Ein besonderes Interesse am Guten.
Download NZZ Artikel:
AUSBILDUNG PRESSEFOTOGRAFIE
Eröffnungsrede anlässlich Ausstellung der MAZ Fotografie Studenten August 2022 im BelleVue Basel. Dieser Text wurde auch im MAZ Jahresbericht 2023 in einer verkürzten Form publiziert.
Allein auf Instagram werden jeden Tag 95 Millionen Bilder hochgeladen. Wörter wie «Bilderflut» sind dann sofort zur Stelle. Auch das ein Indiz dafür, dass numerische Grössen weitaus mehr interessieren als die Frage, was für Qualitäten diese Bilder und Daten eigentlich anzubieten haben. Obwohl eigentlich genau diese Fragestellung uns dann zu einer möglicherweise viel wichtigeren Erkenntnis führen würde!?
Immer schon war die Masse einer Pyramide an ihrem Fuss grösser als an deren höchstem Punkt. Die Spitze ist jedoch in ihrer Form präziser, eleganter und definierter. Was ich damit sagen möchte, ist, dass viel nicht gleich gut bedeutet und dass das Kleine, Zarte und Feinstoffliche uns alle unter Umständen zu tiefgründigeren Erfahrungen bringen würde. Masse beeindruckt uns Menschen und seltsamerweise will das Gros unserer Gesellschaft sie oft als einzige Referenz anerkennen. Und so kommt es, dass dieses Phänomen uns auch gerne zum Glauben verleitet, dass wenn viele sich für ein Thema interessieren, es auch dementsprechend gesellschaftliche Relevanz aufweisen würde. Der Superlativ steht dann stellvertretend für das Richtige, Wichtige und Bedeutungsvolle!? Gerne würde ich zu dieser irrigen Annahme die Worte des Dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (*1855) zitieren:
«Je mehr Leute es sind, die eine Sache glauben, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ansicht falsch ist. Menschen, die recht haben, stehen meistens allein.»
Aber was hat das alles mit Fotografie zu tun? Diese Millionen von Menschen, die ihre visuellen Eindrücke bereits zwei Minuten nach deren Aufzeichnung für den Rest der Welt einsehbar machen, auch sie werden als Fotografen oder Fotografinnen bezeichnet. Sie werden somit automatisch zu meinen Berufskolleg*innen, und das, nur weil sie wissen, wo sich der Bildauslöser befindet und wie sie das Resultat dieses Wissens unmittelbar publizieren können. Und weil die, die so handeln, so unglaublich zahlreich sind, macht sich unter ernsthaften Bildermacher*innen Resignation breit. Und als Reaktion darauf lässt man sich im Weiteren und unter anderem nicht mehr ausbilden. Als Folge dieser Terrainübergabe und Tendenz oszillieren heutige Bildhonorare zwischen gratis und «’s Bättle versumt»! Profis finden kaum mehr ein Auskommen mit ihrer Arbeit.
Nein, natürlich nicht, denn nur weil ich vor ein paar Tagen von einer Kulturredaktion eine 600-Zeichen-E-Mail erhalten habe, die über 12 Rechtschreibe- und Orthografiefehler aufweist, heisst das ja noch lange nicht, dass das Feuilleton tot ist. Ergo sind die 95 Millionen Foto-Uploads bestenfalls eine Möglichkeit, erkennen zu können, wie sich das Verhältnis zwischen guter und schlechter Fotografie zusammensetzt. Sie sind gar eine Orientierungshilfe, eine Referenz dafür, was gut, klug und erstrebenswert sein könnte. Das Erforschen der kollektiven Oberflächlichkeit ist auch eine Art Ausbildungsstätte und führt zu Bildung.
Klar, wenn viele sich den Kuchen teilen wollen und müssen, dann werden die Kuchenstückli kleiner. Jedoch heisst professionell fotografieren auch nicht zwingend, dass man damit Geld verdienen muss. Professionalität zeichnet sich – zumindest aus meiner Perspektive – in einem grossen Ausmass auch durch eine bestimmte Haltung aus. Klar ist auch, dass es um Sprache geht und somit – und nicht zuletzt – um die Frage, was ich denn überhaupt sagen möchte. In der logischen Konsequenz müsste dann das Wort Verantwortung auftauchen. Was kann ich wo und wann sagen und was eventuell nicht. Ästhetik und Technik sind dann nur noch Aspekte des Visualisierens. In meiner Verantwortung als Studienleiter am MAZ Luzern habe ich grössten Wert auf eben diese Auseinandersetzung, die Sichtbarmachung dieser Prozesse, gelegt. Wir haben uns in den Klassen den Mund fusselig geredet, Positionen erörtert, über die Richtigkeit und Angemessenheit von visuellen Konzepten gesprochen, gestritten und – das ist auch wichtig – gelacht!
Lustig heisst aber in keinster Weise ohne Ernst. Ernsthaftigkeit im Tun unterscheidet den Profi vom Amateur. Die Profifotografin übernimmt zu jedem Zeitpunkt die Verantwortung für ihr Tun. Das, was wir fotografieren und publizieren, ist auch ein Resultat von sorgfältiger intellektueller Überlegung, Abbild intuitiver und emotionaler Überprüfungen. Fotografie passiert natürlich meistens ganz schnell, mit Hochgeschwindigkeit ziehen «Geschichten» an uns vorbei, da reicht die Zeit kaum aus, sich vorher einer vertieften Meditation über Sinn und Unsinn eigenen Tuns hinzugeben. Spätestens beim Sichten des gemachten Bildmaterials sollte dann aber Zeit und Raum zur Verfügung gestellt werden, denn nur so kommt man zu sorgfältigen Entscheidungen.
Der Unwissende (Amateur), kümmert sich einen Deut um diese Definition von Fotografenarbeit. Der Betrachter, der nicht nur aus Langeweile Bilder und Geschichten konsumiert, merkt bald den Unterschied.
Wenn diese Behauptung jedoch stimmt, dann müsste unweigerlich die Frage aufpoppen, wie viele Menschen (Fotografierende und Betrachtende) tatsächlich des Sehens fähig sind? Ich bin jedenfalls der Meinung, dass wer fotografieren lernen will, sich auch um die Frage der eigenen Fähigkeit des Wahrnehmens (Sehens) kümmern sollte. Auch darüber haben wir im MAZ immer wieder gesprochen, und wer sich auf diese Fragestellung einlässt, macht unter Umständen schmerzhafte Erfahrungen. Es geht um das Erkennen eigener Unzulänglichkeiten!
Die Offenlegung gehörte zu meinem Pflichtenheft. In jedem Studiengang der letzten 13 Jahre waren das – auch für mich – sehr unangenehme Momente. Und es war so sicher wie das Amen in der Kirche: Diese Augenblicke kommen ... unausweichlich, es gehört zu jedem Werdungsprozess.
Ich bin der dezidierten Meinung, dass sich professionelle Haltung auch visualisiert, sich im Bild zeigt. Ob sich diese Kompetenz jedoch auch heute noch ökonomisieren lässt, das weiss ich nicht resp. nicht mehr. Klar, man kann sich durchaus auf die Position versteifen, dass alleine der Markt gültige Wegpunkte zu setzen vermag. Und ich weiss nur zu gut, dass viele Kräfte behaupten, dass nur unternehmerisch opportun sein kann, was auf den Ruf eben dieses Marktes zu reagiern vermag. Das halte ich weder für klug, noch den schöpferischen Spielraum voll ausgeschöpft. Ich bin davon überzeugt, dass ich als Fotograf oder Fotografin den Markt beeinflussen und mitgestalten kann. Hierfür braucht es nicht nur ein solides technisches Grundwissen für Fotografie, sondern auch viel Leidenschaft und dieses unbedingte Bekenntnis unsere Welt mit visueller Sprache erzählen zu wollen. Der Beruf des Fotografen und der Fotografin verlangt nach einem wachen Geist und die Bereitschaft viel arbeiten zu wollen. Ich weiss, das klingt weder berauschend noch nach «Easyness». Eine Ausbildungsstätte, die mit Lehrkräften zusammenarbeitet, welche ihr Wissen nicht mit Selbsterfahrenem überprüft haben, wird künftig weder glaubwürdig bleiben, noch wissbegierige Student*innen anlocken.
DIE GESCHWÄTZIGKEIT DES UNWISSENS
Replik auf «Keine Lust auf Digital – die analoge Fotografie ist zurück und erobert die Jugend» auf srf.ch am 27.10.2022
Es ist nicht weiter schlimm, wenn der Zeitraum einer Reflexion offensichtlich ebenso klein ist, wie die Präzision der eigentlichen Analyse. Die Lautstärke aber, die Länge und die Plattform des Referats https://www.srf.ch/radio-srf-1/keine-lust-auf-digital-die-analoge-fotografie-ist-zurueck-und-erobert-die-jugend sind so vermessen, dass ich diesen Beitrag kaum unkommentiert stehen lassen kann. Dieses unerträgliche Spiel mit Worthülsen, die Flüchtigkeit der Gedankengänge, diese Pseudoeinordnung zum Thema analoge Fotografie sind, mit Verlaub, blöd-sinnig (in zwei Wörtern). Offensichtlich lässt die SRF-Redaktion solche amateurhaften fotohistorischen Einschätzungen und Fachbeiträge unredigiert passieren.
Der Artikel beginnt bereits mit der unrichtigen These, dass mit der Marktreife der ersten Digitalkameras das Ende der Analogfotografie nur noch eine Frage der Zeit gewesen sei. Was nicht einmal für die Beurteilung des Amateurmarktes je richtig war, stimmte auch zu keinem Zeitpunkt für die professionelle und schon gar nicht für die künstlerische Fotografie. Der diese Behauptung kollportierende Autor täte gut daran, nicht nur mit den Vertretern der Bildindustrie (Kamerahersteller) zu reden, sondern auch mit ambitionierten Berufsfotograf:innen, oder Schweizer Fotokünstlern wie Guido Baselgia, Hans Danuser oder internationalen Bildjournalisten wie Alec Soth, Johann Bendiksen, die ihre Sicht der Welt entgegen aller modischen Strömungen seit je auf Film bannen. Geschweige denn all die «älteren Menschen, die sich gar nie für die Digitalfotografie interessiert haben», wie der Autor und Hobbyfotograf in seinem Artikel den Inhaber eines Basler Fotohauses zitiert.
Überhaupt sind die Zitate inhaltlich von unglaublicher Kurzatmigkeit. Die 24 jährige Studentin wird mit dem Satz zitiert: «An der Analogfotografie schätzt sie die bewusste Art, sich Dinge und Menschen anzuschauen – anders als beim Fotografieren mit dem Smartphone». Es ist nicht die analoge Fotografie, die bewusst den Menschen betrachtet, sondern der Mensch. Und auch wäre es ein Irrtum zu glauben, dass ein Smartphone eine andere Sicht auf die Welt da draussen schafft, als eine Spiegelreflex – oder Grossformatkamera. Es ist nicht die Technik, die eine andere Sicht auf das Geschehen ermöglicht, sondern die Biomasse hinter der Kamera. Die Halbwertszeit dieser Aussage ist flüchtiger als die Wirkung eines Alkaselzers.
Das Unwissen des Autors über analoge Fotografie ist derart selektiv verklärt, dürftig und pauschalisierend, dass er sich gar zu der Behauptung hinreissen lässt, dass Analogfotograf:innen bewusst auf die Möglichkeit verzichten Bilder so zu bearbeiten, wie man es in der digitalen Anwendung machen würde. Diese Ahnungslosigkeit ist provozierend gross, denn kein Mensch, der analoge Fotografie betreibt - also in einem Labor seine eigenen Filme entwickelt und vergrössert – hantiert ohne Bildbearbeitung in den Bereichen Helligkeit, Gradationen, Entwicklerverdünnungen und somit individueller Interpretationsmöglichkeiten der sich auf dem Negativ befindenden Informationen. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich analoge Fotografie in keinster Weise von der digitalen Dunkelkammer, bzw. letzteres leitet sich gar von der traditionellen Form ab.
Die Verwendung der Modeterminologie «Entschleunigung», der Versuch die Bedeutung dieses Wortes automatisch in Zusammenhang mit der analogen Fotografie zu bringen ist hanebüchen. Das alleinige Belichten von analogen Filmen unterscheidet sich bzgl. Entschleunigung überhaupt nicht von der digitalen Belichtung: 1/1000 Sekunde Belichtung ist und bleibt eine tausendstel Sekunde, egal ob in der digitalen Anwendung oder nicht. Meint die Fotohistorikerin Frau Dr. Blaschke etwa den Verarbeitungsprozess in der Dunkelkammer, welcher analog etwas langsamer, zeitaufwendiger ist und somit zu einer anderem Reflexionsraum führt? Falls die Fotohistorikerin die Annäherung ans fotografische Interpretieren von der Welt da draussen meint, dann müsste ihr doch klar sein, dass die Fähigkeit des Sehens, das Thema Wahrnehmung kaum etwas mit dem Thema digitale oder analoge Fotografie zu tun hat. Kontemplative Fähigkeiten oder das Üben dieser wird von Menschen eingefordert und nicht von der Technologie. Hier sei erwähnt, das dem guten Bild völlig egal ist, ob es digital oder analog hergestellt ist. Alles andere sind Scharmützel zwischen den Lagern Traditon und Moderne.
Um was es bei diesem «angesagten Trend» mehrheitlich geht, zeigt sich in der Bemerkung, dass man digitale Bilder mit einer digitalen Filterapp kopieren könne (übrigens gibt es diese Apps bereits seit 10 Jahren und ist keine News mehr wert). Es geht um reine Ästethik und um den jugendlichen Glauben darüber, dass style everything ist. Übrigens, dieser «angesagte Trend» mäandert an den Schweizer Hochschulen für Fotografie schon seit über 10 Jahren, die Wahrnehmung dieser Bewegung scheint erst heute bei diesem Journalisten angekommen zu sein. Dieser überreicht uns in seiner Arbeit dann auch noch seine Visitenkarte als Fotograf und pflanzt unter jedes Bild seinen Namen, insgesamt siebenmal!
Fazit: Dieser Beitrag ist aus journalistischer Sicht beunruhigend und bezüglich fotografischer Fachkompetenz als provozierend dilettantisch zu bewerten.
NEUES KONZEPT WORLD PRESS PHOTO 2022
Reto Camenisch am 6. Mai 2022 im Tagesanzeiger Zürich
Um es vorwegzunehmen: Der Aufbruch von World Press Photo in eine neue bildjournalistische Welt ist schlicht und ergreifend revolutionär. Joumana El Zein Khoury, die neue Direktorin von World Press Photo, spricht in ihrem Video-Editorial von einer «wunderbaren Vielfalt, die unsere Welt ausmacht», und diese Sicht gilt als Prämisse für alle nun prämierten fotografischen Werke. Die neue Organisation begab sich auf eine Reise intensiver Selbstreflexion und machte es sich zur Aufgabe, eine viel ausgewogenere Darstellung von Geschichten aus dieser Welt möglich zu machen.
In vielen Referaten und Vorträgen schimpfte ich über Jahre vor Studierenden über diese Gewalt- und Elendsbilder, deren einzig wahre Absicht es mehrheitlich war, den Autoren und der Bildindustrie Aufmerksamkeit und oftmals auch wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen. Ich bin der dezidierten Meinung, dass diese Ästhetisierungen des Schrecklichen kaum jemanden ausserhalb eines voyeuristischen Bedürfnisses interessieren und auch keinen konstruktiven Beitrag zur Überwindung politischer oder gesellschaftlicher Defizite darstellen.
In regelmässigen Abständen kursieren absurde Behauptungen, dass diese Art des Bildermachens Kriege beendet habe. Als Paradebeispiel wird hierfür gern ein Bild aus dem Jahr 1968 geführt, das die Erschiessung von Nguyen Van Lém zeigt, einem südvietnamesischen General und Polizeichef. Der Fotograf Eddie Adams behauptete noch viele Jahre nach der Entstehung dieses Bildes, dass seine «Ikone» die öffentliche Diskussion bezüglich der Sinnhaftigkeit von Krieg veränderte.
Dasselbe wird dem wohl berühmtesten Bild aus dem Vietnamkrieg, «Napalm Girl» von Nick Ùth, unterstellt. Bloss: Wäre dem so und würde diese seltsame Logik wirken, dann müsste es heute weit weniger kriegerische Konflikte geben, denn die Foren sind gefüllt mit dieser Art von Bildmaterial.
Die Autoren solchen Bildmaterials scheuen sich auch nicht davor, bizarre Thesen zu verbreiten. Daniel Etter zum Beispiel, seines Zeichens Kriegsfotograf, behauptete am 5. April 2022 auf SRF Online, dass in den Bildern von Toten, denen direkt ins Gesicht fotografiert wurde, gar «eine Kraft liegt, weil sie eine Verbindung zum Ort des Geschehens schaffen, die ein Text so nicht erzeugen kann …». Und um eine etwaige weiterführende Diskussion bereits im Keim ersticken zu lassen, lässt er uns auch noch wissen, dass der Skandal nicht in solchen Bildern liege, sondern darin, «was diese Bilder zeigen!».
Die Würde der Toten ist auch der amerikanischen Fotojournalistin Lynsey Addario nur wichtig, solange diese ihren Profilierungsdrang nicht in Grenzen weist. Sie publizierte am 7. März dieses Jahres auf der Titelseite der «New York Times» den toten Körper einer Frau, neben ihr zwei tote Kinder liegend, im Vordergrund die Leiche eines jungen Mannes. Die Gesichter aller auf dem Bild vorkommenden Menschen sind in Vollschärfe fotografiert. So hat auch der Ehemann und Vater der beiden Kinder vom Tod seiner Liebsten erfahren. Der Kommentar der Fotografin: «Der Entscheid, diese Bilder zu drucken, ist ein Beleg für die Bedeutung des Journalismus, der sich durch die Wiedergabe von Tatsachen legitimiert, wie brutal sie auch sein mögen.» Nun, welche Bilder angemessen, welche Form von journalistischer Haltung in der Fotografie richtig ist respektive sich öffentlich durchsetzen kann, hängt vor allem auch davon ab, was Publizistinnen und Publizisten hierfür als opportun erachten.
Und genau vor diesem Hintergrund ist die Arbeit und die Rolle von World Press Photo von so grosser Bedeutung. Sie wären aus meiner Perspektive die Richtigen, um allen Beteiligten aufzeigen und vorgeben zu können, was für eine Art Fotografie, was für Geschichten und Bildsprachen sie für zeitgenössisch relevant und korrekt erachten.Diese Verantwortung und Vorreiterrolle übernehmen sie nun, indem sie gemeinsam mit Professionals aus unterschiedlichen Kulturen darüber reflektierten, wie man alte Grenzverläufe, längst überholte Vorstellungen aufbrechen kann und wie man weitergehen möchte. In der Folge dieser Ausleuchtungen entwickelten sie eine Systematik und ein Raster, wie diese alten Codes neu zu definieren sind.
Die neue Jury besteht aus 50 Prozent Frauen und Mitgliedern, die sechs globale Regionen repräsentieren, nämlich Nord- und Zentralamerika, Südamerika, Europa, Afrika, Asien und Südostasien/Ozeanien. Der Grund hierfür ist die Schaffung einer integrativeren und vielfältigeren Fotojournalismusbranche. Dank ihrer Regionenkenntnis sind die Jurymitglieder nun in der Lage, Beiträge anders zu beurteilen und sie in einen differenzierteren kulturellen, politischen und sozialen Kontext einzuordnen. Daraus dürfte sich ein genaueres Abbild der Welt ergeben. Sobald die regionalen Jurys ihre Auswahl getroffen haben, entscheidet in der Folge eine globale Jury über die regionalen Gewinner und von diesen wiederum über die globalen Gewinner.
Was sich aus diesem Ansatz, diesem neuen Konzept heraus nun an jurierten Arbeiten durchzusetzen vermochte, ist augenfällig bahnbrechend. Das Einzelbild der palästinensischen Fotografin Fatima Shabair beispielsweise zeigt palästinensische Kinder, die nachts unter einem Baldachin bei Kerzenlicht zusammensitzen. Romantik pur, wäre da nicht die komplett zerbombte Umgebung in der Nachbarschaft, welche im Blaudunkel des Lichts knapp zu erkennen ist. Ich wage zu behaupten, dass diese Themenwahl und diese Art der fotografischen Umsetzung kaum Anklang in einer europäisch männlich dominierten Jury gefunden hätte.
Oder die Langzeitarbeit von Guillaume Herbaut namens «Ukraine Crisis»: Eine Betrachtung, nicht einfach aus der Warte der Kriegsaktualität mit ihren altbekannten Schrecklichkeiten und Brutalitäten, sondern aus der Warte von Menschen, die in einer Umgebung leben müssen, die von einem Langzeitkonflikt betroffen ist. Die Betrachtenden können so visuell in Erfahrung bringen, aus welch komplexen politischen und kulturellen Zusammenhängen heraus Bildgeschichten entstehen. Es geht Herbaut nicht nur um die Darstellung eines Kriegsaktes allein, sondern mehr um die Visualisierung langzeitlicher Konsequenzen, die ein Krieg für Menschen verursacht.
Der Hintergrund, die Ursache wird somit ebenso wichtig wie die Schrecklichkeit der Unmittelbarkeit. Intime Momente ausserhalb der direkten Brutalität, posttraumatische Existenz an der Frontlinie beispielsweise, werden subtil und ohne Lärm dargestellt. Es wird ein Einblick in eine Welt des Elends und Schreckens gezeigt, die über die Rohheit vulgärer Leichenbilder hinausgeht.
«Die Sehnsucht des Fremden, dessen Weg unterbrochen wurde» der in Ägypten lebenden Fotojournalistin Rehab Eldalil reflektiert darüber, was es bedeutet, in der heutigen Zeit Beduine zu sein. Im Mittelpunkt steht die Verbundenheit zwischen Menschen und Land, die nach Ansicht der Fotografin den Begriff der Zugehörigkeit definiert. Sie selber ist nicht nur Aktivistin für die Rechte der Beduinen, sondern lebt seit fünfzehn Jahren als aktives Mitglied in dieser Gemeinschaft.
Während die weiblichen Teilnehmerinnen durch Stickereien mitwirkten, trugen die Männer der Gemeinschaft mit handgeschriebenen Gedichten bei. Eldalil ist eine Bildgeschichte von unglaublicher Schönheit und poetischer Eleganz gelungen. Hier offenbart sich wahrlich ein Aufbruch in ein neues Kapitel zeitgenössischen Bildschaffens.
Zu guter Letzt zeigt sich die Veränderung auch in den neuen Kategorien und vor allem in der Schaffung der Kategorie Open Format, wo multimediales Storytelling endlich fester Bestandteil wird. Die Arbeit «Blood Is a Seed» der ecuadorianischen Fotografin Isadora Romero erzählt in ihrem Video von ihrem Vater, und dieses basiert auf seinen Erinnerungen sowie auf ihren eigenen Wahrnehmungen der Veränderungen, die Kleinbauern in den letzten drei Generationen erlebt haben. Das Video setzt sich aus Digital- und Filmaufnahmen zusammen, von denen einige auf abgelaufenem 35-Millimeter-Film aufgenommen und später von Romeros Vater nachgezeichnet wurden. Obwohl es sich bei dem Projekt um eine Erforschung der Vergangenheit handelt, setzt sie zeitgenössische Techniken ein – sie spielt mit den Parallelen zwischen genetischen Codes und binären Codes digitaler Fotografien –, um dieses alte Wissen für die Zukunft zu bewahren.
Die «anstehende, bedeutungsvolle Veränderung» in Bezug auf Verantwortlichkeiten, fotografische Haltungen und Bildsprachen, welche Joumana El Zein Khoury im September 2021 per Video ankündigte, ist weitaus mehr als ein Lippenbekenntnis.
«World Press Photo 2022»: Ausstellung vom 6. Mai bis zum 6. Juni 2022 im Landesmuseum Zürich.